01.05.08

Magdi Aboul-Kheir

Paranormale Phänomene sind auch nicht mehr, was sie mal waren

Als Mensch wird man zwischen dem vermeintlich Erklärbaren und dem angeblich Unerklärlichen hin und her gewirbelt wie ein einsamer Socken in der Waschmaschine. Das klingt wie ein blöder Vergleich, ergibt aber durchaus Sinn. Wie ich beweisen werde.

Meine erste Lektion in Algebra, also einer bekanntlich exakten Disziplin, erteilte mir meine Mutter. Durch sie verstand ich von früh an, was es mit den geraden und ungeraden Zahlen auf sich hat. »Eine ganze Zahl gehört zu den ungeraden Zahlen, wenn sie nicht – ohne Rest – durch 2 teilbar ist«, steht zwar im Lexikon. Doch von wegen, es ist viel einfacher: Socken werden in einer geraden Anzahl in die Waschmaschine geschmissen, eine ungerade Zahl kommt wieder heraus.

Ich wuchs als Unikatsockenträger auf, meine Mutter nahm das hin wie ein Naturgesetz. »Kauf Dir halt nur gleiche Socken«, wies sie mich an, als ich schließlich als Jugendlicher meine Klamotten selbst aussuchte. Aber das war albern, denn wir schrieben die 80er Jahre und trugen ohnehin zu jeder Zeit und zu jeder Kleidung nichts anderes als weiße Tennissocken. Die unterschieden sich lediglich in der Anordnung ihrer schmückenden Farbringe: dunkelblau-hellblau, hellblau-dunkelblau, rot-dunkelblau undsoweiter. Umso gravierender, wenn dann nur ein Exemplar mit dunkelblau-hellblau und eines mit blau-rot aus der Maschine heimkehrte. Ich lernte: Würste existieren in Paaren, Socken geben diese Sozialform rasch auf. »Kauf Dir halt nur gleiche Socken«, wiederholte meine Mutter und hängte unverdrossen weiterhin Solo-Socken an die Leine.

Damit war für mich der Schritt von der verlässlichen Naturwissenschaft Mathematik in die ängstigende Welt des Paranormalen getan. Denn Tatsache ist, dass es keine akademisch fundierten Erklärungen für das Mysterium gibt, das den Fachausdruck »Single-Socks-Phänomen« trägt. Nicht, dass es keine Theorien gibt: Angeblich werden die Socken ins Leitungsnirvana abgesaugt oder finden sich im Bottich unter der Trommel. Wer sich zu dem Thema im Internet schlau macht, liest jedoch von Sockenmonstern und Sockenklauzwergen, von den Essgewohnheiten Außeriridischer oder ausgeleierten Bullaugengummis, stößt sogar auf ein »Institut für Einzelsocken«. Es gibt verzweifelte, ja anrührende Hilferufe und krude Thesen. Etwa über auf Socken spezialisierte Schwarze Löcher. Doch gehen da auch weiße Tennissocken rein? Fragen über Fragen: Gibt es eine Parallelwelt mit dreibeinigen Wesen, die meine Socken tragen? Holen sich die Schwaben auf diese Art anderer Menschen Sparstrümpfe?

Selbst Skeptiker, die sich mit dem Sockenschwund auseinandersetzen, müssen die Existenz des Paranomalen anerkennen. Zumal Wissenschaft und Technik versagen: In der Gebrauchsanleitung der Waschmaschine steht nur, dass »Kleinstteile in seltenen Fällen durch den Spalt zwischen Manschette und Trommel gedrückt werden können«, aber weder handelt es sich bei meinen Socken, Größe 43, um »Kleinstteile«, noch ist von »seltenen Fällen« zu sprechen, sondern vom Alltag.

Wie immer im Leben: Die Jahre vergingen, die Probleme blieben die gleichen. Nur die Protagonisten änderten sich teilweise. Statt meiner Mutter nimmt nun meine Gattin den sockenvernichtenden Handlanger-Part ein. Sie steht zumindest in diesem Punkt in der großen Tradition der weiblichen Linien unserer Familien, stellt allerdings eine neue Evolutionsstufe dar. Denn bei ihr verschwinden die Socken nämlich nicht nur einzeln, sondern gleich paarweise. Mit den geraden und ungeraden Zahlen haut das also nicht mehr hin. »Kauf dir halt schöne bunte Socken, wie ich auch«, sagt sie, »dann merkt man sofort, wenn einer fehlt und auch wenn beide fehlen«, und ich leiste dem Folge, erwerbe bunte, gemusterte, originelle Socken – um sie schon bald zu vermissen.

Immer wieder suche ich Fachgeschäfte auf, erwerbe für teures Geld ansehnliche farbenfrohe, gemusterte Socken; in meinem heimischen Sockenfach dagegen herrscht schwarz-graue Tristesse. Die Sockenfarbe weiß, immerhin, ist mittlerweile getilgt worden. Aber wo bleiben sie ab, meine grünen, blauen, roten, orangen Socken mit ihren Punkten, Karos und Streifen?

Ich entschließe mich, der Sache doch noch einmal mit naturwissenschaftlicher Versuchsanordnung und mit empirischer Strenge auf den Grund zu gehen. Lege ein Paar auffällig rote Socken in den Wäschekorb, achte darauf, dass sie auch beide gemeinsam in die Waschmaschine wandern. Und siehe da, zwei Stunden später, baumeln sie an der Wäschespinne. Und siehe nochmals da, am Tag drauf, sind sie nicht mehr zu sehen. Spurlos verschwunden. »Kauf dir halt schöne bunte Socken, wie ich auch«, sagt meine Frau nur. Stimmt, sie hat eine tolle Sockenauswahl. Wieso eigentlich? Ich gehe an ihren Kleiderschrank, öffne das Sockenfach und ziehe ein halbes dutzend farbige, mir persönlich bekannte Socken heraus. Meine Socken. »Das sind Deine?«, fragt die Diebin ohne sichtbare Schuldgefühle. »Ich dachte, das sind meine, Du hast ja nur schwarze und graue.« Von wegen Sockenmonster und ausgeleierte Bullaugengummis. Und von wegen übersinnliche Phänomene. Ach, nicht einmal auf das Paranormale ist noch Verlass.

Immerhin weiß ich, was ich jetzt tue. Ich werde wieder weiße Tennissocken tragen. Die wird meine Frau garantiert nicht an sich nehmen. Und dann habe ich wenigstens mehrere Exemplare von einer Sorte. Drei, fünf oder sieben Stück.