06.10.06

Magdi Aboul-Kheir

Nachtflug zur Venus. Dazu ein halber Liter Batida

Wenn ein Mensch mehr ist als die Summe der Demütigungen, die er erleiden, der Peinlichkeiten, die er überstehen, der Abgründe, die er durchschreiten musste, und der Neurosen, die aus all dem erwachsen sind, mag er sich glücklich schätzen. Einerseits.

Andererseits erscheint mir dieser Eröffnungssatz für einen Text, in dem es nicht zuletzt um Boney M. und Batida de Coco geht, als gleichermaßen zu pathetisch und pathologisch.

Erinnert sich übrigens noch jemand an die Goombay Dance Band? Nein? Gut.

Bekannlich kann man sich nicht alles merken. Womit ich bei Michael Meyns aktueller Kolumne wäre, durch die ich mich schmökere; nichtsahnend, dass bereits der Schrecken der Vergangenheit sein stinkendes Maul auftut, um seine Zähne in meine gut abgehangenen Erinnerungsfetzen zu schlagen. Ich lese von »Popcorn« und »Banana Mama«. An dieser Stelle reißt es mich. Boney M. Das waren noch Zeiten; nein, waren sie nicht, ich war dabei, ich weiß es.

Meinetwegen hätten die 80er Jahre in den 80er Jahren vorbeisein können. Meintwegen hätten die 80er Jahre offiziell für beendet erklärt werden können, als ich mich nach einer Überdosis Batida übergeben musste. Wären die 80er Jahre rascher vorbeigezogen, hätte ich mir Oberlippenbart, weiße Slipper und Lederkrawatte erspart, beziehungsweise Fotos, auf denen ich samt Oberlippenbart, weißen Slippern und Lederkrawatte zu sehen bin und die noch heute im Freundeskreis kursieren.

Im Fernsehen ist das alles harmlos nett und heimatmuseal amüsant: in rosarot beziehungsweise neongelb getauchte Nostalgie. Oliver Geißen befragt Thomas Stein und irgendwelche Hüpfdohlen oder -bohlen, die damals teils noch gar nicht gezeugt waren, und dann gibt Ingo Appelt einen Satz von sich, in dem mehrfach »ficken« vorkommt, was für Lacher sorgt. Das sollen die 80er gewesen sein. Waren sie aber nicht, zumindest nicht nur. Sie waren die Zeit der ersten Male, und das nicht nur im Sinne Ingo Appelts.

Letzte Dinge kann man kaum steuern, erste Male hingegen nicht mehr ungeschehen machen. Schon wieder so ein Satz. Aber schlimm wahr. Wahrhaft schlimm. Erste Male – so wie die erste Schallplatte. Unauslöschbar, unkorrigierbar gehört sie zur Biografie wie das magere Geburtsgewicht, die hässlichen Kindheitsnarben und die Einträge ins Klassenbuch. Warum konnte es nicht ein Bob-Dylan- oder Cat-Stevens-Album gewesen sein, meinetwegen auch irgendwas von Genesis. Die erste LP meiner Frau war Abbas »Arrival«. Selbst das geht rückblickend in Ordnung. Aber bei mir, da hilft keine sentimentale Verklärung oder Retro-Welle, bei mir war es Boney M. »Nightflight to Venus« hieß das Opus, neben einigen Hits enthielt es Nummern wie »Voodoonight« und »Never Change Lovers in the Middle of the Night«. An das zweite Vinyl kann ich mich nicht mehr erinnern. Oder vielleicht kann ich es doch, aber es ist selbst für diese Kolumne zu peinlich. Die dritte Scheibe war der Soundtrack zu »Zwei glorreiche Halunken«. Cooler Ennio-Morricone-Sound. Aber wer fragt schon nach der dritten LP.

Später habe ich Musikwissenschaft studiert, heute schreibe ich Konzertkritiken, besitze aberhunderte erlesene CDs. Doch wenn ich auf einer schicken Party von trendy Leuten in Weißt-Du-noch-damals-Stimmung nach meiner ersten LP gefragt werden, tue ich den Mund auf, gestehe die Wahrheit, löse eisiges Schweigen aus und verabschiede mich in die sofortige Bedeutungslosigkeit. Ich darf ein wenig Boney M. zitieren: »Nightflight to venus / Way out there in space. / Nightflight to venus / Our new favourite place. / Nightflight to venus / All systems are go. / Nightflight to venus / The sky is aglow.« So etwas prägt, so etwas bleibt hängen. An einem.

Wie auch der erste Kuss. Nachts um vier mit Gänsehaut im Regen auf einem Friedhof. Nein, das stimmt nicht. Das war der erste Kuss, später, der wirklich etwas zählte. Aber der erste Kuss als solches? Reichlich abgefüllt auf einer Party. Als ich gehen musste, gegen elf, weil mich meine Mutter abholte, wurde – so erzählte man mir am Tag drauf – mein Platz auf beziehungsweise an der Dame von einem meiner Geschlechtsgenossen eingenommen, ohne große Anstandspause seinerseits oder Unmutsäußerungen ihrerseits. Versucht man, diese Erfahrung in Tönen auszudrücken, kommt wahrscheinlich Boney M. heraus. Wie war das nochmal: »Never Change Lovers in the Middle of the Night«. Dazu passt ein halber Liter Batida de Coco. Soviel, was den Nachtflug zur Venus betrifft.

Wenn wir schon dabei sind: Der erste Rausch. Da gibt es allerdings zwei erste Male, über deren Reihenfolge ich mir nicht im klaren bin. Entweder war es die Nacht, in der ich nach der Zechtour auf der Suche nach einem offenen Fenster um das elterliche Haus schlich und schließlich vom zwei Meter hohen Gartentor in einen Busch stürzte, worauf ich besoffen und verkratzt an der Haustür läuten musste. Mein Vater öffnete und reagierte verständnislos. Oder aber es war die Fete meines Freundes Torben, zu deren krönenden Abschluss ich mich auf seinen Schallplattenspieler übergab, worauf dieser seine Tätigkeit für immer einstellte. Mein Freund reagierte verständnislos.

Noch was? Ach ja, die Goombay Dance Band. Seinerzeit sind ein paar derer Songs durchaus bekannt geworden. »Sun of Jamaica«, »Eldorado«, »Aloha-oe«, derart üble Disco-Verschnitte, das einem noch nach Jahrzehnten schlecht werden könnte. Ich zitierte: »Golden Dreams of Eldorado / all have drowned in seas of pain and blood./ Golden dreams of Eldorado / may come true but only in your heart«. Also gut: Die Goombay Dance Band war meine zweite LP. Jetzt ist es raus. Darauf trink ich einen. Am besten Batida. Aloha-oe auf die alten Zeiten; gut, das sie nicht mehr kommen.
Schade, dass heute kein Plattenspieler mehr herumsteht, auf den man sich übergeben kann.