10.05.11

Magdi Aboul-Kheir

Das Brüllen des Änderungsschneiders

Genetisch betrachtet, müsste ich NUR AM HERUMBRÜLLEN SEIN! Denn das südländische, insbesondere orientalische Blut, das immerhin fünfzigprozentig in meinen Adern fließt, müsste zur Folge haben, dass ich keine Konversation führen kann, ohne zu schreien. DAS TU ICH ABER NICHT, ähm, Entschuldigung, das tu ich aber nicht.

Natürlich ist es ein Klischee, dass mediterrane Menschen grundsätzlich 20 Dezibel lauter eingestellt sind als Mitteleuropäer. NUR EIN KLISCHEE! Und das sollte man sich immer vergegenwärtigen, vor allem wenn ein Italiener, Tunesier oder Jemenit einem den Gehörgang schmerzerregend vollschallt. JA, DIE SIND GAR NICHT ALLE SO, die können auch leise reden. SIE TUN ES NUR UNGERN, WENN SIE NICHT GERADE HEISER SIND.

»Warum schreit der denn so?«, fragten mich früher meine Schulkameraden, wenn sie uns besuchten und hörten, wie mein Vater in seinem Zimmer herumtobte.
»Der telefoniert mit seinen Verwandten in Ägypten«, erklärte ich.
»Ach so, die Leitung ist schlecht.«
»Nein, das hört sich immer so an.«
»Und worüber streiten die?«
»Wieso streiten? Die unterhalten sich doch nur. Das gehört so.«

Brüllen, Kreischen, Röhren – was für uns Deutsche nach Hysterie oder Nervenzusammenbruch klingt, ist in den Augen, das heißt: Ohren, meiner arabischen Verwandtschaft ein normales, ja freundliches Gespräch. Für uns wirkt es, als ob übelste Verwünschungen ausgestoßen würden oder ein hasserfüllter Erbschaftskampf im Gange wäre, dabei unterhalten sie sich nur über das Abendessen oder die neue Sitzecke. Das deutsche Wort »Zimmerlautstärke« ergibt dort keinen Sinn; es sei denn das Zimmer wäre 800 Quadratmeter groß und die verbalen Kombattanten stünden an entgegengesetzten Wänden. Ein Familienfest in Kairo übertönt jeden startenden Jet.

Als Kind wunderte ich mich einst bei Urlauben in Ägypten über Dreier-Gespräche, in denen mein Vater dolmetschte. Ich stellte eine Frage, mein Vater hörte mir ruhig zu und übersetzte dann brüllend. Der Verwandte schrie meinem Vater die Antwort ins Gesicht, der wandte sich mir zu und gab mir den Inhalt in normaler Stimme wieder. Er bemerkte nicht einmal, dass er beim Wechsel zwischen Deutsch und Arabisch an einem inneren Lautstärkeregler drehte.

Ich wurde aber hierzulande sozialisiert. Entsprechend empfinde ich laute Organe als anstrengend und störend. Wenn ich schreien will, SCHREIE ICH, VERDAMMT NOCHMAL, aber das soll eine Steigerung, ein Effekt, ein dramaturgisches Mittel sein und nicht der Standard. Gerade im partnerschaftlichen Miteinander, auch im Streit, empfinde ich das übermäßige Heben der Stimme als unangenehm und wenig zielführend.

Das Schreien sollte Bergsteigern und Fußballtrainern vorbehalten sein. Auch in der Aggressions-Therapie und Pornosynchronisation mag es seine Berechtigung haben. Und natürlich gehört bei der Bundeswehr der laute Ton zum guten Ton – das wurde mir dort beigebracht.
»GEFREITER ABOUL-KHEIR!«
»Ja?«
»DAS HEISST HIER!«
»Ja, hier.«
»NUR: HIER!«
»Hier. Sie brauchen nicht zu schreien.«
»ICH SCHREIE NICHT. NOCH NICHT. WENN ICH SIE ANSCHREIE, MERKEN SIE DAS SCHON!«
Das ägyptische Militär stelle ich mir lieber gar nicht erst vor.

Aber Südländer können auch anders. Herr Gül, der Änderungsschneider in unserem Viertel, ist zum Beispiel ein vorbildlich integrierter Mitbürger, also einer mit integrierter Stimmgewalt. Dachte ich zumindest, bis ich eine geflickte Hose abholen wollte. Die war offenbar noch nicht fertig, und so fing er an, am Tresen mit seiner Frau ohrenbetäubend herumzuschimpfen: »FRAU, WO IST DIE HOSE VON DEM HERREN?«
»Ist doch nicht schlimm, kann doch mal passieren«, raunte ich. erschrocken über den verbalen Ausbruch.
»NEIN, KANN NICHT PASSIEREN«, hackte er weiter auf seiner Frau herum, »UND DARF NICHT PASSIEREN!«
»Ich komm doch bald wieder vorbei«, meinte ich.
»Übermorgen garantiert fertig«, versprach er mir. »ÜBERMORGEN, FRAU!«

Zwei Tage später fuhr ich wieder bei Familie Gül vor. Als ich zehn Meter oder sogar weiter von ihrem Laden entfernt war, sah Herr Gül mich durch die offene Tür und blickte sich sofort nach seiner Frau um. »DER MANN!«, wütete er los, »DIE HOSE!« Da wusste ich, dass ich noch ein weiteres Mal zu Güls würde gehen müssen. Ich winkte nur, drehte mich um und hörte noch den ganzen Straßenblock lang Herrn Güls Getobe.

Ich bekam Hunger. In unserem Viertel gibt es eine gute türkische Bäckerei. Leider sind kürzlich die leckeren, mit Schafskäse gefüllen Hefeteigschnecken aus dem Sortiment verschwunden. Ich fragte die Verkäuferin nach dem Grund. Sie drehte sich Richtung Backstube: »HAMIT! WARUM GIBT ES KEINE KÄSESCHNECKE?«
»Ist nicht schlimm«, beschwichtigte ich sofort, tönendes Unheil ahnend. »Ich wollte nur wissen, ob ...«
»HAMIT! KUNDE BESCHWERT SICH, WEIL KEINE KÄSESCHNECKE!«
»Nein, nein, ich beschwere mich gar nicht. Ich wollte nur ...«
»HAMIT! KUNDE SAUER, KUNDE SCHIMPFT! HAMIT, KOMM!«
Hamit kam aus der Backstube und erzählte, dass sein Ofen kaputt sei, er aber auf baldige Abhilfe hoffe.
»Ah, dann gibt's wieder Käseschnecke. Gut?«, sagte die Frau lächelnd zu mir und wandte sich ihrem Mann zu: »HAMIT! GEH WIEDER ARBEITEN!«

Ich kaufte Börek, Sesamringe und Blätterteigtaschen. Zuhause legte ich die Backwaren auf den Mittagstisch.
»Warum gibt's keine Käseschnecken?« fragte meine Frau.
Ich drosch mit der Hand auf den Tisch. »OFEN KAPUTT!«, brüllte ich, »HAMIT TRAURIG!«
»Spinnst du?«, fragte meine Frau.
»NEIN, WARUM?«, schrie ich, dass die Wände wackelten. »BÖREK AUCH GUT! JETZT HINSETZEN! ESSEN!«
Wenn ich ehrlich bin: Fühlte sich gar nicht so schlecht an.