20.11.02

Magdi Aboul-Kheir

Die Landeskirche und das Urinal

Als ich neulich meinen Schwanz in der Hand hielt, erschien mir der Herr vor Augen. Symbolisch gesprochen natürlich, aber da in Sachen Kirche und Glaube Symbolisches bekanntlich bedeutsam ist, angemessen ausgedrückt.

Ich stand am Urinal einer Trinkhalle, beißenden Geruch in den Nüstern, von draußen 80er Jahre-Gesänge hineinschauernd, als mir bewusst wurde, was da vor meinen Augen an der Wand prangte: »Wein zu Wasser machen kannst Du ja schon gut«. Ein Werbeplakat der Landesjugendkirche oder Jugendlandeskirche oder Kirchenlandesjugend oder so ähnlich. Wein zu Wasser machen kann ich ja schon gut. Das stimmte. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Nun hatte ich zwar Hefeweizen zu mir genommen anstatt Wein, aber das war ja nicht der Punkt. Was genau der Punkt war, konnte ich mir zwar nicht richtig klar machen, aber ich fand es in meiner spontanen Betroffenheit echt klasse, wie fulminant und echt zeitgemäß die Kirche es da schaffte, junge Menschen in einer echt entspannten Situation mit echt provokant-anregenden Worten aus der Reserve zu locken und echt zum Nachdenken zu animieren.

Eine Internet-Adresse stand da auch, www.mehr-als-du-glaubst.de. Vor meinem geistigen Auge erschien sofort gänzlich wundersam die betreffende Homepage, »Die Kanzel im Web« genannt. Zwar brauchte man für den Heiligen Geist online Soundkarte, Lautsprecher und Flash4 Plug-In, aber das war in meinem transzendierten Zustand, zudem leicht alkoholisiert, nun wahrlich kein Problem.

Ich las und las und las. Betrachtete elektronische Meditationen, animierte Web-Andachten. »Religion braucht Ausdruck«. »Religion braucht Bewegung«, »Religion braucht gute Taten«, »Religion braucht Verzicht«. Eine Agentur für kirchliche Kommunikation hatte ganze Arbeit geleistet, die Sorgen und Nöte meiner Generation enorm lässig auf den Punkt gebracht und zielgruppenspezifisch aufgearbeitet. Viele bunte Bildchen. Fragen, Antworten, Hinweise. Auch Lehrreiches. Ich erfuhr, dass wir unsere Jahre nach Christi Geburt zählen, »nicht nach Alexander dem Großen, nicht nach Cäsar, nicht nach Lenin.« Das fand ich lustig und gluckste ein wenig in das Abflussrohr.

Ich las kluge Sätze wie »Anonym geht die Welt zugrunde« und malte in einem Akt dezidierter Selbstfindung und engagierter Meinungsäußerung meinen Namen an die Kacheln. Ich las: »Manchmal passt einfach alles. Fast genauso oft bleiben alle Fragen offen.« Ja, genauso ist es doch! Ich fühlte mich in meinem Innersten erkannt und rülpste zustimmend. »Und doch bleibt eine Ahnung, dass wir auf dem richtigen Weg sind.« Danke, danke, Hoffnung im Klo, Hoffnung in der Nacht.

Doch dann: »Eindeutige Wege sind meistens verdächtig. Es gibt keine Null-acht-fuffzehn-Lösungen für das, was wir zu bewältigen haben. Aber was ist richtig? Was ist falsch?« Genau! Was ist richtig? Was ist falsch? Ich schwankte. »Das müssen wir zusammen herausfinden. Immer wieder.« Genau, zusammen, gemeinsam. Neben mir stand ein Typ. Wollte er mit mir den richtigen Weg rausfinden? Nein, er wollte nur pissen.

Ich wurde sehr emotional, meine Augen brannten. »Aber Tränen sind uncool«, stand da auf der imaginierten Seite, aber das war nur eine Falle, denn gefolgt wurde das von einem tröstlichen »Na und?!« Genau. Ich weinte ein wenig. Dann fühlte ich mich gleich besser.

»Religion braucht Hände«, das stand da auch noch. Das erinnerte mich daran, wo ich war und was ich gerade tat. Ich schüttelte ab, packte ein, wusch die Hände. Dann ging ich nach draußen, geläutert, beseelt, und bestellte, um den Anfang meines neuen Lebens symbolisch adäquat zu zelebrieren, ein Glas Wein.