21.03.13

Magdi Aboul-Kheir

Zucchini, Lauch und Transsexualität sind schwer verdaulich

Mein Vater ist 80 Jahre alt und schätzt keine Veränderungen. Diesem Satz wohnt keine Kausalität inne. Denn mein Vater mochte schon mit 60 keine Veränderungen, mit 40 ebenso wenig und gewiss auch mit 20 nicht, obschon ich ihn da noch nicht kannte.

Was einmal galt, kann heute nicht falsch sein – davon geht er prinzipiell aus. Prinzipiell bedeutet unabänderlich. Zumindest verhält er sich so. Auch in Wohngebieten gilt, da sie in geschlossenen Ortschaften liegen, Tempo 50, nicht 30, der Sicherheitsgurt ist freiwillig, und Menschen aus Erfurt oder Dresden kommen noch immer aus der DDR.

Mein Vater hat klare Verhaltensregeln, Werturteile und Maßstäbe, die er von seinem Selbstbild ableitet und die ewig gelten. Ein Arzt aus der DDR ist kein echter, ein Arzt ohne Promotion ist auch kein echter, wer aber promoviert ist, bekommt den Titel bei der Anrede an den Namen rangeklatscht, »Herr Doktor« und »Frau Doktor«, egal, ob er oder sie das will oder nicht – denn mein Vater wollte selbst stets als Herr Doktor angesprochen werden. Dr. Guttenberg und Dr. Schavan, träfe er sie auf der Straße, hießen natürlich immer noch so. Und unverheiratete Frauen, egal welchen Alters, werden und auch heute, im 21. Jahrhundert, mit »Fräulein« tituliert. Fräulein Doktor Schavan etwa.

Besonders eherne Vorstellungen hat mein Vater beim Thema Essen. Beispiel eins: Eine Mahlzeit ohne Fleisch ist keine, so wie der Arzt ohne Doktor keiner ist. So kann mein Vater nach dem Verzehr einer Pizza durchaus fragen: »Was gibt's heute zum Essen?«

Beispiel zwei: Kaffee ist schlecht fürs Herz, während schwarzer Tee mit vier Löffeln Zucker beruhigt und stärkt – mein Vater trinkt davon sechs Tassen täglich, betrachtet aber einen maßvollen Kaffeetrinker als potentiellen Selbstmörder.

Beispiel drei: Auberginen, Lauch und Zucchini sind schwer verdaulich. Wenn mein Vater drei panierte Riesenschnitzel mit einem Berg Butterreis und etwas Zucchini isst und danach Verdauungsprobleme hat, ist das Gemüse schuld.

An dieser Stelle sollte ich anfügen, dass mein Vater selbst Arzt ist. Dass die Medizin seit einem halben Jahrhundert nur wenige ernsthafte Fortschritte kennt, dürfte sich von selbst verstehen. Von elementarer medizinischer Bedeutung ist für meinen Vater aber, ich kann es an dieser Stelle nicht ausklammern, regelmäßiger Stuhlgang. Wenn er also nach starkem Fleisch- und Tee-Genuss, was nun andere Ärzte nicht überraschen würde, an Verstopfung leidet, werden alsbald Abführmittel eingeworfen, am besten zwei, denn von guten Medikamenten kann man auch mal mehr schlucken. Weitere Details zu diesem Verhalten, das er auch zeit seines Lebens auf langen Autoreisen und in Luxushotels pflegte, erspare ich dem Leser.

Wie gesagt, mein Vater ist Arzt. Natürlich ist er längst im Ruhestand, aber das heißt nichts, denn er mag ja keine Veränderungen. Aus diesem Grund lehnt er auch den Rollenwechsel, der ältere Menschen fast immer trifft, rundherum ab: den vom Arzt zum Patienten. Mein Vater ist ein miserabler Patient und hat zunächst mal nur einen behandelnden Arzt: sich selbst. Erst wenn die Selbstmedikation mit Fleisch, Tee und Abführmitteln über Wochen keine echte Besserung bringt, ist er bereit, sich die Meinung eines Kollegen anzuhören.

An der Stelle kommt nun sein Hausarzt ins Spiel. Mein Vater brauchte und hatte natürlich nie einen Hausarzt, aber als sein Befinden vor Jahren wirklich einmal beklagenswert war, kam doch ein Arzt zu ihm ins Haus: Dr. Schulze. Als mein Vater nun kürzlich nach einem Krankenhausaufenthalt wieder heimkam, erschien es vernünftig, aus Sicherheitsgründen den Hausarzt zu reaktivieren. Der hatte sich mittlerweile allerdings einer Geschlechtsumwandlung unterzogen: aus Dr. Frank Schulze war Dr. Andrea Schulze geworden. Was meinen Vater, den Veränderungsfeind, tief verstörte. Und so musste ich ihn vor dem Arztbesuch bearbeiten.

»Aber wieso hat er das gemacht?«, wollte mein Vater wissen.
»Das kommt vor, wahrscheinlich hat er sich schon immer als Frau gefühlt.«
»Aber ich will keinen verkleideten Arzt.«
»Sie ist nicht verkleidet«, erklärte ich geduldig. »Er hat sich zu einer Sie umoperieren lassen. Und wenn er ein guter Arzt war, ist sie nun eine gute Ärztin. Das hat doch damit nichts zu tun.«
»Und wann kommt er nun?«
»Sie. Wann kommt sie ...«
»Ja, wann? Ich habe ein Abführmittel genommen.«
»Bald.«
»Und wie soll ich ihn anreden. Herr Doktor Schulze?«
»Nein, natürlich Frau Doktor Schulze.«
»Das kann ich nicht!«
»Dann sag halt nur Doktor Schulze.«
»Hm. Wenigstens hat er promoviert.«
»Sie.
»Und immerhin kommt er nicht aus der DDR.«
»Sie. Sie!«

Es läutete an der Tür. Hausarztbesuch. Die Problemlösung, auf die mein Vater kam, hätte mich eigentlich nicht überraschen dürfen.
»Guten Tag, Fräulein Doktor.«