21.07.06

Magdi Aboul-Kheir

Der Zahlendepp und die deutsche Politik

Den Zeitpunkt, als ich mein Vertrauen in die deutsche Politik verlor, kann ich ganz genau benennen. Dazu waren keine Skandale vonnöten, keine Steuererhöhung und noch nicht einmal Roland Koch. Dazu brauchte ich nur meinen Freund Magnus und folgende Geschichte, die so wahr wie beschämend ist.

Magnus, der Geisteswissenschaftler, mag etliche Fähigkeiten besitzen, die Beherrschung der Mathematik gehört nicht dazu. Die Welt der Zahlen ist ihm so fremd wie einer toten Seekuh das Bergsteigen. Magnus stößt schon in ihren elementarsten Erscheinungsformen an seine Grenzen. Er scheitert intellektuell bereits an den Grundrechenarten, und das kleine Einmaleins kann für ihn nicht klein genug sein. Von Prozent- und Bruchrechnung ganz zu schweigen. Noch mehr zu schweigen von wirtschafts-mathematischen Anwendungen.

Nun trug es sich zu, dass Magnus während seiner Studienzeit jahrelang als ziemlich anständig entlohnter, relativ loyaler Assistent einer Landtagsabgeordneten arbeitete. Teils aus Interesse, teils aus opportunem Geist war er auch Mitglied dieser recht bekannten Volkspartei. Magnus klebte Plakate, organisierte Wahlkampfauftritte und ließ sich am Bürgertelefon beschimpfen. Da Magnus rhetorisch geschickt und politisch informiert ist, kam er mit all dem gut zurecht, und so wuchsen Aufgaben und Verantwortung. Er durfte Materialien für diverse Arbeitssitzungen der Abgeordneten zusammenstellen, in kleinem Rahmen Referate halten und sich weiterhin am Bürgertelefon beschimpfen lassen.

Eines Tages kam die Abgeordnete in heller Aufregung zu Magnus, der im Bürgerbüro herumfläzte. Sie brauche für die Fraktion rasch ein hieb- und stichfestes wirtschaftspolitisches Konzeptpapier in einer heiklen Angelegenheit samt Rechenexempeln, das könne er doch gewiss erstellen. Der Fachmann, der ihrer Fraktion sonst in solchen Fragen zur Seite stehe, sei leider nicht greifbar, und Magnus sei doch gescheit, da Student, sogar ein promovierender. »Natürlich«, nickte Magnus freundlich, »selbstverständlich«, und er sah seine Kündigung vor Augen.

Die Sache ist nämlich die, dass Magnus immer »natürlich« und »selbstverständlich« sagt, wenn man etwas von will, von dem er keinen blassen Dunst hat. Denn er schätzt es nicht, sich eine Blöße zu geben, und er hat die Erfahrung gemacht, vor allem im Studium, sich überall hindurchlavieren zu können, notfalls mit dreister Aufschneiderei und selbstgerechtem Auftreten. Leider waren nun, unvermeidlich, Zahlen im Spiel.

Die Abgeordnete warf ihm Unterlagen, Listen und Tabellen hin, verabschiedete sich dann flugs. Magnus rief in seiner Verzweiflung einen befreundeten Informatiker an. Dem bot er einen ordentlich Geldbetrag dafür, aus den mysteriösen, bösen Zahlen irgendetwas Vorzeigbares zu fabrizieren. Leider hatte der Informatiker keinen Schimmer, um was es inhaltlich ging, und lehnte ab. Doch Magnus ließ nicht locker, und so stöpselten die beiden – ein was Zeitgeschehen und Politik betrifft ignoranter Computerfachmann und ein mathematisch debiler Geisteswissenschaftler – ein wahrhaft krudes Zahlen- und Machwerk zusammen. Das Ergebnis war, soweit reichte Magnus' Selbsteinschätzung aus, dünnbrettgebohrte Blenderei nahe am Schwachsinn.

Er übergab das hanebüchene Konzeptpapier seiner Chefin, in der festen Erwartung, schon sehr bald von seiner Kündigung zu erfahren. Bis dahin machte er weiter Routinedienst und ließ sich zur Beruhigung ein wenig am Bürgertelefon beschimpfen.

Zwei Tage später kam die Abgeordnete ins Büro und drückte Magnus an ihre Volksvertreterinnenbrust. Ihr Auftritt in der Fraktion sei ein voller Erfolg geworden, nicht zuletzt seines »exzellenten Papiers«. Es habe keinen Widerspruch gegeben, man habe sich beeindruckt gezeigt. Magnus' Konzept werde zur Grundlage der Arbeit im Landtag, erzählte sie ihm.

Von da an meldete sich mein Freund am Telefon gern als »Zahlenmagnus, Mathematikexperte des Landtags«. Nein, das war noch nicht der Moment, als ich mein Vertrauen in die deutsche Politik verlor. Dieser Moment kam einige Tage später. Als ich erfuhr, dass Magnus' Papier in der Bundestagsfraktion seiner Partei angekommen war und dort als Arbeitsgrundlage diente.