23.11.12

Magdi Aboul-Kheir

Brombeerkralle, Chewbacca und die Wanderhure

Auf den ersten Blick haben »The Voice of Germany«, »Warrior Cats« und die »Wanderhure« nichts gemeinsam. Auf den zweiten und dritten Blick auch nicht. Es sei denn, man schielt. Aber der Reihe nach.

»Eine schreckliche Schlacht gegen eine Meute von Dachsen hat den DonnerClan große Verluste gekostet. Und noch immer ist der Clan ohne Zweiten Anführer. Der junge Krieger Brombeerkralle ist wütend: Feuerstern muss endlich einen Stellvertreter ernennen – und er wäre genau der Richtige! In seinen Träumen wird Brombeerkralle von seinem Vater Tigerstern und seinem Halbbruder Habichtfrost heimgesucht, die seine Gedanken vergiften. Ein furchtbarer Plan nimmt Gestalt an ...«

Furchtbar in der Tat, was meine elfjährige Tochter da Buch für Buch voller Begeisterung verschlingt. Fantasy mit sprechenden, kämpfenden, schmachtenden Katzen, wer denkt sich so etwas aus? Freilich, wer bin ich, meine Tochter zu schelten? Als ich so alt war wie sie, war ich in einer Galaxie weit, weit entfernt verschwunden und erfreute mich an Obi Wan Kenobi, Chewbacca und C3PO. Für meine Eltern dürfte sich das seinerzeit nur unwesentlich stichhaltiger angehört haben, als für mich heute die Abenteuer von Brombeerkralle, Tigerstern und Habichtfrost klingen.

Dennoch mag die Familie von Zeit zu Zeit auch gemeinsam unterhalten werden. Für diesen Zweck gibt es, der Name verspricht es zumindest, Familienunterhaltung. Zum Beispiel »The Voice of Germany«, die sympathische Castingshow auf Sat 1. Mittendrin aber tut der Sender Überraschendes, nämlich etwas für die Aufklärung unserer Töchter. Klar, früher in der seligen Urzeit des Privatfernsehens, strahlte Sat 1 noch »Unterm Dirndl wird gejodelt« und »Sonne, Sylt und kesse Krabben« aus, aber das war verschämt spätnachts, heute hingegen wird zur besten Sendezeit die »Wanderhure« beworben.

Keine Panik: Das einzig wahrhaftig Sittenwidrige dieser Produktion dürfte wohl die Qualität sein. Aber sie beschert mir eben die töchterliche Frage: »Papa, was ist eine Wanderhure?« In den »Warrior Cats« tritt sie offensichtlich nicht auf. Die naheliegende Antwort: »Eine Hure, die wandert« spare ich mir gleich mal, denn die trifft nicht den Kern des Problems.

Apropos Problem – ich habe gar keins, dem Kind zu erklären, was Prostitution ist. Ich bin nicht verschämt, schon meine Eltern waren es mir gegenüber nicht. Kein Wunder, bin ich doch Gynäkologensohn. Schon in jungen Jahren wurde ich mit der Aura der Frauenarztpraxis konfrontiert, die sich im Untergeschoss unseres Hauses befand, und mit dem herzhaften Gynäkologenhumor meines Vaters. Man muss im Leben Abstriche machen und so.

Mir wurde klar: Nichts ist schlimmer als Eltern, die nicht über Sexualität sprechen. Nur eins: Eltern, die über Sexualität sprechen.

Aufgeklärt wurde ich folglich irgendwie en passant, unaufgeregt, aber doch nachdrücklich. Spätestens als ich infolge des Stimmbruchs zumindest am Telefon mit meinem Vater verwechselt werden konnte, war ich mehr als nur im Bilde. Das belegt diese Anekdote: Der private Anschluss läutet, ich gehe ran. Eine Frau: »Herr Doktor, seit zwei Wochen stehen meine Tage aus. Was soll ich nur machen?« – Ich: »Sie sollten mit meinem Vater sprechen.«

Wie oft haben mich Frauen später beim Liebesspiel bewundernd gefragt: »Bist Du Gynäkologensohn?« Okay, gar nicht. Aber ich wäre nicht überrascht gewesen!

Nur eines machte mir in Kinder- und Jugendtagen Angst. Die herumliegenden Fachzeitschriften. Während meine Kinder sich heute für »Der Journalist«, »Geo Epoche«, »epd Film« und was wir sonst so lesen nicht interessieren, war ich damals durch das Fachmagazin »Sexualmedizin heute« regelmäßig beunruhigt. Es schien da eine mysteriöse, ja gefährliche Welt zu existieren, die ich mit dem Alltag meines Vaters nicht richtig in Verbindung brachte. Obi Wan Kenobi und Chewbacca halfen mir da auch nicht weiter.

Wenn ich darüber nachdenke, wundere ich mich, dass ich so ein entspanntes Verhältnis zur Sexualität und eine gesunde Haltung zum weiblichen Körper entwickelt habe. Wenn ich noch genauer nachdenke, frage ich mich, ob ich wirklich so ein entspanntes Verhältnis zur Sexualität und eine so gesunde Haltung zum weiblichen Körper entwickelt habe.

Da ist es vergleichsweise doch besser, wenn meine Töchter sich mit dem DonnerClan und Helden wie Löwenpfote und Distelpfote beschäftigen. Um auf der Höhe zu sein, will ich mich im Internet mal über die »Warrior Cats« informieren. Just da bekomme ich eine Mail von »Strip TV«. Offenbar sollte ich mich darüber freuen: »Du hast eine Chat-Anfrage von Fickschnitte18.« Ja, vielleicht bin ich von meinem Vater und seinem Gynäkologenwitz doch gut auf das Leben vorbereitet worden.

Und meine Töchter? Die schmökern in einem neuen Buch. »Der König Dickbauch lebt mit seinen zwei geliebten Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, allein im Schloss. Alles ist wie im Märchen. Kunigunde und Kunibert langweilen sich jedoch leider sehr. Da machen sie die Bekanntschaft mit einem Giftigen Zwerg ...«

Na, das klingt nun doch reichlich konventionell. Wer das wohl geschrieben hat? Der Autorenname kommt mir bekannt vor. Tatsächlich: ein Gynäkologe im Ruhestand! Sogar ein alter Kollege meines Vaters aus der Nachbarstadt. Kunigunde, Kunibert und der Giftige Zwerg: Ach, die Sexualmedizin ist auch nicht mehr das, was sie mal war.