26.03.09

Magdi Aboul-Kheir

Sigmund Freud, Stanley Kubrick und ein halbes Hähnchen

»Ein Wirbelsturm erfasst mich, trägt mich auf eine rotglühende Wiese voller Mohnblüten. Alsbald verwandeln sich die Blumen in Disteln und kratzen mich. Warm läuft Blut meine Beine herab, doch ich spüre keinen Schmerz. Ein Faun trabt heran, stellt sich hinter mich und hält mir mit einer Hand die Augen zu. Mit der anderen nestelt er an meiner Hose herum, öffnet den Reißverschluss, doch heraus windet sich ein Schwanenkopf mit langem Hals. Ich öffne die Augen, drehe mich herum, da steht Roland Koch und sagt ›Yes we can‹ ...«

Oder so ähnlich. Literaten drehen meistens hohl, wenn sie ihren Protagonisten Träume ins Unterbewusstsein schreiben. Symbolismus, bis die Freud-Gesamtausgabe in Flammen aufgeht. Psychoanalyse, bis sich die Couch durchbiegt. Auch wenn sich Filmemacher an das Ausgestalten von Traumsequenzen machen, sieht das meistens so aus, als ob sich ein durchweichtes Hirn auf Drogen in der Bilderwelt von Salvador Dali austobt und dabei auf seinen eigenen Mutterkomplex stößt. Und das alles mit Weichzeichner und voller Sphärenklänge.

Bindungsängste! Verlustängste! Schuldgefühle! Latente Aggressionen! Unterdrückte Sexualität! Träume weisen den Weg zu unserem Inneren. Denn, so lese ich im Internet: ›Im Schlaf zapfen Sie ein großes Reservoir von Erfahrungen und Erinnerungen an, von dessen Existenz Sie tagsüber nichts wissen. Keime neuen Lebens schlummern in Ihnen und kommen hervor in Ihren Träumen.‹

Traumdeutung, eine wahrlich faszinierende Wissenschaft. Ich stoße online auf eine Liste mit 3897 Traum-Motiven samt Deutungen. Träumt man zum Beispiel von einem Chamäleon, so bedeutet das: ›Sie erkennen bei sich selbst oder bei anderen Menschen die Fähigkeit, sich abhängig von den durch die Umgebung vorgegeben Umständen anzupassen und zu verändern.‹ Unfassbar. Wie gesagt, eine faszinierende Wissenschaft.

Sigmund Freud deutete die meisten Bilder als erotische Wunschvorstellungen. Damit kann ich etwas anfangen. Ein Freund von mir hat mal geträumt, er habe zwei Penisse. Es könnte doch tatsächlich sein, dass dieser Traum auch eine sexuelle Bedeutung besitzt. Was Freud zum Thema Chamäleon sagt, ist nicht überliefert. Dabei hat es doch so eine schöne lange Zunge.

Leider stinken meine eigenen Träume vergleichsweise ziemlich ab. Die meisten ihrer Bedeutungen kann ich rasch herleiten: alltäglich Unbewältigtes, alberne Hoffnungen, die üblichen Ängste. Und, na gut, die ein oder andere erotische Wunschvorstellung. Aber niemals zwei Penisse. Komplexe, surreale Bilderwelten suche ich des Nachts nur selten auf, oder sie suchen mich nur selten heim. Kurz, ich träume profanen Kram.

Ein Traum aber ließ mich kürzlich nach Erwachen um Fassung ringen. Obwohl es sich ja um eine sehr private Erfahrung handelt, und Sie intime Wahrheiten über mich erfahren, will ich den Traum hier schonungslos und mit allen Details ausbreiten und nichts verschweigen oder beschönigen. Wer nicht mit den bilderreichen Abgründen meiner Seele konfrontiert werden mag, sollte an dieser Stelle aufhören zu lesen.

Der Traum geht so: Ich esse ein halbes Hähnchen.

Ja, das ist es schon. Ich kann den Traum gern wiederholen: Ich esse ein halbes Hähnchen.

Also: Ich sitze am Tisch, vor mir auf dem Teller liegt ein knuspriges Brathähnchen. Ich esse das Brustfleisch, nage die Flügel ab und auch die Schlegel. Es schmeckt gut, und als vor mir nur noch Knochen liegen, bin ich satt – und wache auf. Fertig, Ende, Aus. Ich wecke meine Frau und erzähle ihr den Traum. Sie sagt, ich spinne wohl, von so einem miesen, banalen Traum habe sie noch nie gehört. Wenn ich Hunger hätte, sollte ich in die Küche gehen und mir ein belegtes Brot machen.

Hunger? Aber was ist denn die tiefere Bedeutung dieses Traums? Dass es sich nach Freud um Hinweise auf sublimierte Sexualität handelt, mag ich nicht glauben. Ich finde Geflügel nicht wirklich aufreizend oder geil. Leider ist das Hähnchen bei den 3897 Motiven in der Traumsymbol-Datenbank nicht enthalten. Und ein Hühnchen ist doch etwas anderes als ein Chamäleon. Ein Mann, der ein Hühnchen isst, ist ein Mann, der ein Hühnchen ist – oder mache ich es mir zu einfach?

Wie würde ich diese Szene interpretieren, sähe ich sie in einem Film? In Stanley Kubricks ›2001 – Odyssee im Weltraum‹ begegnet sich der Astronaut Bowman am Ende selbst: Er beobachtet sich, wie er an einem Tisch sitzt und isst. Gut, so sitze ich in dem Traum auch da. Bei Kubrick ist das aber eine enigmatisch-symbolhafte Szene, Bowman altert und fliegt schließlich, wiedergeboren als Embryo (nicht als Küken), durchs All. Ich sitze nur da, altere nicht, und Richard Strauss' Zarathustra-Fanfare ist auch nicht zu hören. Noch nicht mal Sphärenmusik.

Ich esse lediglich ein halbes Hähnchen. Was soll das? Wie war das nochmal: ›Im Schlaf zapfen Sie ein großes Reservoir von Erfahrungen und Erinnerungen an, von dessen Existenz Sie tagsüber nichts wissen.‹ Das scheint mir beim Thema Hühnchenessen unzutreffend. ›Keime neuen Lebens schlummern in Ihnen und kommen hervor in Ihren Träumen.‹ Überfahre ich morgen ein Huhn? Will mich jemand federn? Werde ich beruflich auf Hähnchenbrater umschulen? Nein, ich werde – ›2001‹ lässt doch grüßen – als Hähnchen wiedergeboren. Und vielleicht alsbald gebraten.

Es ist schon toll, was einem so alles klar wird, wenn man sich mit seinen Träumen auseinandersetzt. Aber wenn ich schon wiedergeboren werde, dann lieber als Chamäleon.