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»Die Entdeckung der Peinlichkeit« vorgetragen von Sebastian Marquardt
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).
Kürzlich taperte ein Mann durch das Foyer des Fitness-Studios; sein Blick richtete sich trotz seiner offensichtlich physischen und psychischen Ermattung auf ein Mutter-Tochter-Gespann, das stramm und straff aus der Bodyforming-Stunde marschierte. Die Mutter Ende 30, aber das nahm der Mann kaum wahr, denn er fokussierte auf die blondmähnige, bestenfalls gerade volljährige Tochter in ihrem eng anliegenden, leicht transparenten weißen Top über exorbitanten Rundungen. Der Mann fokussierte so konzentriert und ausschließlich auf sie, dass er mit dem Kopf gegen den Rahmen des Ausgangs lief und den Schädel am Türstock anschlug. Alle im Foyer starrten den starrenden Mann an. Der Mann war ich.
»Mogst a Fotzn?«, fragte mich vor Jahren ein derb-bajuwarisch Mitgrundauszubildender, ein so genannter Kamerad, als ich im oberbayrischen Murnau meinen Wehrdienst ableistete. Mogst a Fotzn? Ich fand, das klang einladend und erfreulich; in Unkenntnis dialektaler Feinheiten bejahte ich begeistert. So lernte ich, dass sich hinter »Fotzn« eine deftige Ohrfeige verbarg.
So viel zum Zusammenhang zwischen erotischer Erwartung und körperlichem Schmerz. Zurück ins Fitness-Studio, wo ich kläglich wimmernd am Türrahmen klebte, was zur folgenden, ebenso schmerzlichen Einsicht führte: Die fortschreitende körperliche Degeneration ist nichts gegen den Verlust an rationaler Selbstwahrnehmung, emotionaler Selbstkontrolle und jeglicher Coolness. Kurz: Das Problem ist nicht, dass ich älter werde, sondern peinlicher. Zumindest lautete so meine Diagnose jenseits profaner Symptome wie der am Türstock blutig geschlagenen Nase. Ich machte mich auf die brutalstmöglich selbstkritische Suche nach Indizien für potenzielle Peinlichkeitszuwächse.
Was treibt mich überhaupt ins Fitness-Studio? Stärkung der Rückenmuskulatur natürlich, Verbesserung der Ausdauerwerte selbstverständlich, Förderung des allgemeinen Wohlbefindens sowieso – all all das würde ich gern sagen, all das wäre jedoch gelogen. Um es mit den Worten Lester Burnhams (Kevin Spacey) aus »American Beauty« zu sagen: Ich will nackt gut aussehen. Das ist die ehrliche Antwort. Das ist ehrlich jämmerlich. Peinlichkeitsindiz eins.
Und wozu das alles? Kürzlich in der Boutique. Ein bestens gebauter Hüne beschwert sich im Gespräch mit dem Ladeninhaber darüber, dass es nur ganz selten Jeans in 38er-Längen gibt. 38er-Längen? Will der mich provozieren? Lächerlich machen? Auch ich beschwere mich gern in Jeansläden. Darüber, dass es nur ganz selten 30er-Längen gibt und das Sortiment erst mit 32er-Größen beginnt. Da kann ich trainieren, wie ich will, wenn die Füße knapp unter dem Hüften sitzen, nützt es auch nichts, wenn sich alles vor lauter Muskeln ausbeult. Das sieht auch nackt nicht gut aus. Vielleicht angezogen sogar noch besser. Peinlichkeitsindiz zwei.
Vor einem halben Jahr sind wir umgezogen – von der wasserrohrbrüchigen Wohnung im schäbigen Hochhaus mit seinem renitenten Fahrstuhl in eine gediegene Neubaueigentumswohnung. Eine Anhebung des Niveaus, aber nicht im wörtlichen Sinne, denn wohnten wir früher im neunten Stock, residieren wir jetzt nur in der dritten Etage. Vorhang oder kein Vorhang, Licht oder nicht, das war früher alles egal, denn die Wohnung im dem Himmel so nahen Neunten war von außen kaum einsehbar. Und so lustvoll gedankenlos (zuweilen auch gedankenlos lustvoll) lebte ich denn dort, lief nackig und neckisch durch die eigenen vier Wände, ohne mir dabei etwas zu denken. Nun denke ich mir aus alter Gewohnheit noch immer nichts, räkele ich mich des Morgens, stehe schwungvoll auf, gehe Richtung Küche, um Kaffee aufzusetzen – und biete den bettenausschüttelnden Nachbarn im Wohnblock gegenüber einen äußerst privaten Anblick dank meiner Morgenlatte. Peinlichkeitsindiz drei.
Neulich schlief ich übermüdet auf dem Sofa ein, während einer Aufzeichnung der angolanischen Snowboardmeisterschaften oder Ähnlichem auf DSF, dem Deutschen Sportfernsehen. Mitten in der Nacht ächzte das Sofa unter mir, ich schlug die Augen auf und erblickte direkt vor mir heftig wippende Sillikonbrüste und einen kreisenden Unterleib. Ich sah einer jungen Dame dabei zu, wie sie sich auf einem Billardtisch räkelte und dabei die letzten der ohnehin wenigen Kleidungsstücke ablegte. DSF? Deutsches Spannerfernsehen? »Sexy Sport Clips« nennt sich die Show, was mich nicht weiter stören sollte; es störte mich dann aber doch, denn unsere Rolläden waren oben und die Silhouetten an den nachbarschaftlichen Fenstern verrieten mir, dass ich offenbar bereits als Unterhaltungsprogramm galt. Morgens Der-mit-der-Latte-macchiato-Kaffee-kocht, nachts als Wichsvorlagen-TV-Glotzer. Peinlichkeitsindiz vier.
Ich wandte mich an meinen in vielen Lebenslagen erfahrenen Freund M. und mailte ihm eine Frage: Wirst Du auch immer peinlicher? Seine Antwort war mir nicht eben eine große Hilfe. Dass er mit Ende 30 an Windpocken erkrankte, ist noch nicht schlimm, höchstens für ihn; allerdings kam er nun auf die Idee, mir ein aktuelles Nacktfoto von sich – 1,98 Meter groß, 115 Kilo schwer, roter Kopf wegen Bluthochdrucks, ganzer Körper voller Pockenpustlen und weißem Pulver, selbst auf dem Schwanz – als Postkarte zu schicken. Die Briefträgerin blickt mich seitdem mit einer unangenehmen Mischung aus Neugier, Empörung und Ekel an. Ich habe sie auch schon mehrfach im Gespräch mit Nachbarn gesehen; kam ich in die Nähe, entstand peinliches Schweigen. Natürlich peinlich.
Mogst a Fotzn? Ja, schlag voll zu.