03.11.05

Stefan Arenz

Protokoll des Irrsinns

In Anlehnung an eine Dokumentation der WELT folgt eine präzise recherchierte Darstellung der Befindlichkeiten Stoibers, welche sich zwischen Berlin, München und der Sphäre des Ungefähren bewegen. Ich möchte betonen, dass es sich nicht um eine Satire handelt. Satiren sind angesichts der aktuellen Entwicklungen unmöglich geworden, denn Satiren leben von absurden Übertreibungen.

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23. Mai: Stoiber will erst nach der Wahl über einen möglichen Wechsel nach Berlin entscheiden. »Das ist meine ureigene persönliche Entscheidung, und das bitte ich zu respektieren«, zitieren Teilnehmer einer CSU-Sitzung ehrfürchtig ihren Boss.

20. Juli: Der Monarch von München hält sich weiterhin bedeckt. »Ich will mich dazu nicht äußern, das ist alles«, erklärt er allzu neugierigen Journalisten auf einer Pressekonferenz. »Das ist meine alleinige Entscheidung. Ich weiß gar nicht, wieso Sie das überhaupt interessiert.«

18. September: Am Wahlabend schließt Stoiber einen Wechsel grundsätzlich nicht aus. »Ich bin bereit, für Deutschland auch in Berlin Verantwortung zu übernehmen«, sagt er dem Bayerischen Fernsehen im Vertrauen. Allerdings müsse man erst die Konstellationen kennen. Den Lümmel von der FDP werde er neben sich nicht dulden.

20. September: Stoiber lässt auf seiner Homepage kurzfristig verlautbaren, er sei nun doch bereit, Frau Merkel nach der Wahl in sein Kabinett aufzunehmen. Nach wenigen Stunden wird der Eintrag kommentarlos gelöscht. Ein bedauerliches Versehen, wie es in CSU-Kreisen heißt. Die CDU-Spitze schweigt eisig.

26. September: Nach Angaben des bayerischen Innenministers Günther Beckstein (CSU) habe Stoiber »eine gewisse Tendenz in Richtung Berlin erklärt«, seine endgültige, definitive Entscheidung jedoch noch nicht getroffen.

27. September, 3 Uhr morgens: Stoiber weckt Muschi, seine Frau, und erklärt ihr leise, soeben habe sich eine gewisse Tendenz bei ihm erhärtet. Muschi reagiert freudig überrascht.

27. September, vormittags: »Erst einmal müssen Union und SPD sich auf eine stabile Regierung mit einem vernünftigen Programm verständigen. Dann kann ich mir auch vorstellen, in diesem Kabinett Verantwortung zu übernehmen«, sagt Stoiber der »Bild«-Zeitung. »Aber ich will schon gebeten werden.«

28. September: »Wenn es zu einer großen Koalition kommt und die Konstellationen stimmen, bin ich dabei«, erklärt er nach dem zweiten Sondierungsgespräch zwischen Union und SPD. »Kein Problem. Ich bin nicht nur Bayer, sondern auch deutscher Patriot und kenne meine Verantwortung.«

10. Oktober: Union und SPD einigen sich darauf, dass Stoiber Minister für Wirtschaft und Technologie werden soll. Sein künftiges Aufgabengebiet nennt er eine »große, ja eine riesige Chance für die Gestaltung eines wirtschaftlichen, finanziellen und technologischen Aufschwungs unter Einbeziehung der Forschung sowie europäischer Aspekte«. Stoiber beginnt aufgeregt mit der Wohnungssuche in Berlin. »Bayerischer Ministerpräsident, 64 Jahre alt, sucht ruhige 4-Zimmer-Wohnung, Innenstadtnähe.« Niemand meldet sich.

14. Oktober: In München beginnen Rangkämpfe um die Nachfolge Stoibers. Huber und Beckstein sind als mögliche Kandidaten im Gespräch und sammeln ihre Gefolgsleute um sich. Für vier Uhr nachmittags wird von unbekannter Seite ein Duell an einem geheimen Orte vorgeschlagen, doch Huber kneift.

25. Oktober: Stoiber und Schavan werden in einem Cafe beobachtet, wie sie sich lauthals streiten. Nach wenigen Minuten stellt Stoiber sich beleidigt in eine Ecke und schmollt, während Schavan grinsend das Cafe verlässt.

31. Oktober: Nach dem Rückzug von SPD-Chef Franz Müntefering aus der SPD-Führungsriege denkt Stoiber darüber nach, doch nicht nach Berlin zu wechseln: »Das ist für mich und uns eine veränderte Lage.« Vier Stunden später erklärt er spät nachts dem Fernsehsender TM3, er verneine ausdrücklich, je verneint zu haben, lieber nicht nach München gehen zu wollen. TM3 wittert kurzfristig eine Sensation, scheitert aber an der Enträtselung des Stoiberspruches: Es ruft keiner an.

1. November: Stoiber will nach Angaben aus Parteikreisen endgültig lieber in München bleiben. »Franz fehlt mir sehr«, soll er gegenüber respektvollen Parteifreunden geäußert haben. Ihm hätten Tränen in den Augen gestanden, wird verlautbart. Fünf Minuten später steigt Stoiber in den Flieger zurück nach Bayern.

2. November: Stoiber wird vor der Bayrischen Staatskanzlei beobachtet, wie er wütend an die Tür klopft und tritt. Huber und Beckstein erklären dem Bayrischen Rundfunk in Panik, sie wollten Stoiber nicht zurück und hätten insgeheim alle Schlösser austauschen lassen. Schließlich lassen sie ihn doch ein. Huber umarmt Stoiber herzlich. Beckstein hat sich in einem Zimmer eingeschlossen und will nicht mit Stoiber reden.

3. November: Während einer Versammlung der CSU-Spitze wird offenbar recht deutliche Kritik an Stoiber geäußert. Herrmann, Fraktionsvorsitzender im Landtag, soll demnach gesagt haben: »Wenn Bayern Bayern bleiben soll, dann muss sich etwas ändern. Etwas an der Spitze. Ganz oben. Hier in Bayern.« Da Stoiber unbeteiligt zur Seite blickte, sei Herrmann deutlicher geworden: »Ich meine Dich, Edmund. Wir wollen Dich nicht mehr.« Am Abend tritt Stoiber vor die Presse: Er nehme die von einigen artikulierte Kritik an seinem Führungsstil, seiner Person sowie seinen Entscheidungen durchaus ernst. Man müsse jetzt ganz nüchtern überlegen, ob es nicht doch ein Fehler gewesen sei, Berlin zu verlassen.

4. November: Schröder und Müntefering werden mehrere Abende hintereinander völlig betrunken in Berliner Szenekneipen gesichtet.

5. November: Stoiber stellt klar, dass er in Bayern bleiben möchte, endgültig, und bittet mit zittriger Stimme in einer herzergreifenden Rede die CSU um eine neue Chance. »Bitte, liebe Freunde, lasst mich nicht fallen, ich flehe Euch an«, wird er zitiert. »Bayerischer Ministerpräsident, das ist alles, was ich kann. Das ist meine Passion. Meine Aufgabe, so lange ich noch kann. Bitte.«

8. November: Die Union stellt unvermittelt die Verhandlungen mit der SPD ein. »Einige Verhandlungsführer der SPD sind ständig besoffen und gröhlen unanständige Lieder«, erklärt Merkel müde mit tief herabhängenden Mundwinkeln. »Unter diesen Umständen haben weitere Verhandlungen keinen Sinn mehr.« Dann tritt Merkel überraschend von allen Ämtern zurück.

10. November: Der Schock über Merkels Rücktritt und das Ende der großen Koalition zieht weite Kreise. Nach und nach treten weitere Bundespolitiker von ihren Ämtern zurück, manche aus Absicht, manche aus Versehen, Kauder, Schäuble, Westerwelle und Schily machen den Anfang. Schließlich fallen reihenweise Bundespolitiker um, bis der deutsche Bundestag völlig leergefegt ist. Einzig Helmut Kohl schmökert hinten in einer der letzten Reihen einsam in seinen Erinnerungen. Selbst einige Ministerpräsidenten, darunter auch der designierte SPD-Vorsitzende und Hoffnungsträger Matthias »Deichgraf« Platzeck, verlieren angesichts der Rücktrittswelle den Mut und »machen den Weg für noch viel Jüngere frei«. Der DAX schnellt erstaunlicherweise steil nach oben. »Endlich kehrt Verlässlichkeit in die deutsche Politik zurück«, wird ein Wirtschaftsvertreter zitiert. Herbert Grönemeyer singt währenddessen in Berlin auf der Waldbühne: »Kinder an die Macht, gebt den Kindern das Kommando, denn sie berechnen nicht, was sie tun«. Tausende singen begeistert mit.

15. November: Stoiber, bärtig und mit wirrem Blick, gibt Reportern vor der Bayrischen Staatskanzlei ein erstaunliches Interview, indem er erklärt, doch nach Berlin wechseln zu wollen. »Ich habe eine patriotische Verantwortung, und der möchte ich mich nicht entziehen, gerade jetzt nicht. Ich will Bundeskasper unseres schönen Deutschlands werden, damit es wieder vorangeht. Diesmal aber so richtig.«