Diese Kolumne lässt sich auch hören!

»Stromsparhirn« vorgetragen von Kerstin Pollmann
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).

28.01.06

Stefan Arenz

Stromsparhirn

In Göttingen fährt man Fahrrad, Frau auch, ich sowieso. Autofahrer sind hier nicht die Herren der Straße, sondern eine belächelte, diskriminierte Minderheit, die ängstlich in der Innenstadt ihre Kreise zieht, ohne Unterlass, weil es keine Parkplätze gibt.

Mein Fahrrad ist klein, braun und quietscht. Das Fahrradschloss, eine schwere Kette, ist ersichtlich wertvoller. In Göttingen besitzen nur Anfänger ein Fahrrad, das teurer ist als das dazugehörige Schloss, und sie besitzen es nicht sonderlich lange. Meistens benutze ich das Fahrradschloss auch. Aber nicht immer. Etwa wenn ich nur ganz kurz ein Geschäft betreten will und das Fahrrad durch das Schaufenster sehen kann. Mein Schloss bleibt also gelassen an der Sattelstange hängen. Nach erfolgtem Einkauf trete ich sodann zu meinem unverschlossenen Fahrrad, um weiterzufahren, öffne routiniert das um die Sattelstange geschlungene Schloss, ziehe es durch die Speichen des Hinterrades und schließe ab.

Warum? Ich weiß auch nicht. Es muss mit einer schnellen, billigen Verknüpfung in meinem Gehirn zusammen hängen, um bei alltäglichen Vorgängen, die keine sonderliche Relevanz besitzen, Strom zu sparen: Hängt das Schloss an meinem Sattel, wird es abgenommen und um's Hinterrad geschlossen; hängt es am Hinterrad, wird es geöffnet und um die Sattelstange gewickelt. Ein – Aus, Aus – Ein. Binäre Logik, ganz einfach. Für komplizierte Sinnfragen bleibt kein Raum. Mein Hirn ist ein Stromsparmodell.

Wenn ich anschließend das Fahrrad besteige und nicht vorwärts komme, weil mein per Schloss blockiertes Hinterrad auf dem Asphalt schleift, fährt mein Gehirn erschrocken aus dem Standby-Betrieb hoch und überwindet die schlichte Ein-Aus-Binärlogik. Beschämt steige ich mit hochrotem Kopfe ab und entferne das Schloss, meistens vor den Augen zweier kichernder, attraktiver Studentinnen, die ausgerechnet in diesem Moment vorbeischlendern.

Weswegen ich das so ausgiebig schildere? Um Verständnis zu wecken. Mein Stromspargehirn bereitet mir nämlich gelegentlich großen Kummer. Und zwar dann, wenn meine Freundin mir ausgiebig von ihrem letzten Schuheinkauf erzählt. Ich weiß, dass sie eigentlich großartige Neuigkeiten berichtet und dass ich zuhören sollte, schon alleine aus Respekt vor meiner lieben und klugen Freundin. Mein Gehirn aber weiß das nicht. Es tut die immer wiederkehrenden Informationen als – jägertechnisch betrachtet – nicht überlebenswichtig ab und fährt herunter in den Standby-Modus, um Strom zu sparen, während meine Freundin redet:

»... und nach den schwarzen Schlappen habe ich bei H., diesem Laden in der Gasse gegenüber von K., da habe ich bei H. diese wunderschönen Mokassins gesehen, braun mit einem schwarzen Muster ...«
Stille.

»Sag mal, hörst Du mir überhaupt zu?«
Ich erschrecke, mein Gehirn fährt blitzartig hoch. Es ist trainiert und benötigt dafür nur Sekundenbruchteile.
»Ja, natürlich. Die ganze Zeit. Sicher.«
»Du schienst mir gerade so abwesend?«
»Quatsch. Erzähl einfach weiter. ›Mokassins, braun mit schwarzem Muster ...‹.«
Puh. Ganz abgeschaltet war mein Gehirn offenbar nicht, nur auf Standby. Die Situation ist unter Kontrolle, meine Freundin beruhigt sich. Alles roger. Mein Gehirn beginnt damit, einzelne Systeme wieder herunterzufahren. Es kann weitergehen.
»Okay«, sagt sie, »und was habe ich davor erzählt?«
Mist. Alle Systeme wieder an. Soll ich beichten? »Liebling, mein Gehirn war im Standby-Modus.« Nee, das geht nicht. Jetzt hilft nur die Flucht nach vorn. Also Angriff.
»Das ist jetzt nicht Dein Ernst, oder? Ich soll Dir berichten, was Du eben erzählt hast? Das ist doch lächerlich ...«
Diese Nummer zieht eigentlich immer.
»Ich habe Dir gerade ziemlich lange von meinem Einkauf erzählt, Liebster. Wenn Du mir nicht zuhörst, kannst Du es ja einfach sagen, dann werde ich Dich in Zukunft auch nicht mehr quälen.«
Ein billiger Trick. Bloß nicht zustimmen. Katastrophengefahr. Herunterspielen, immer herunterspielen. Mein Gehirn läuft langsam heiß.
»Darum geht es doch gar nicht. Natürlich habe ich Dir zugehört. Du warst einkaufen und hast Dir verschiedene Schuhe angesehen. Ich werde jetzt aber nicht im Einzelnen herbeten, welche und wo, das kannst Du einfach nicht von mir verlangen! Das wäre wirklich albern. Also bitte.«
Gute Taktik. Das klappt bestimmt.

»Und was ist mit Julia?«
Mist. Versenkt. Was hatte sie von Julia erzählt? Keine Ahnung. Aber es hilft nichts, ich muss den einmal eingeschlagenen Weg weiterverfolgen. Raten, einfach raten. Sie war einkaufen, also ...
»Himmel, das wird jetzt wirklich lächerlich. Du hast sie während Deiner kleinen Stadttour getroffen und ihr habt Euch unterhalten – reicht das?«
Nasskalter Schweiß unter den Achseln. Habe ich richtig geraten? Wenn sie jetzt fragt, worüber sie sich denn unterhalten hätten, bin ich erledigt. Lügen haben kurze Beine. Mein Gehirn rotiert. Kein Standby-Modus mehr, nie mehr.
»Na gut.« Sie lächelt.
Danke, Herr. Jetzt noch schnell einen draufsetzen. Nachtreten. Sicher ist sicher.
»Und, bist Du jetzt fertig mit mir? Oder soll ich auch noch berichten, über was Ihr Euch im Einzelnen unterhalten habt? Meine Güte ... Wenn ich Dir das nächste Mal etwas erzähle, werde ich Dich hinterher auch kontrollieren und ausfragen. So ein Quatsch.«

Sie lächelt immer noch. Ein wenig starr. Mein Gehirn wird misstrauisch.
»Weißt Du«, sagt sie, »ich finde es gar nicht so schlimm, dass Du mir gelegentlich nicht zuhörst. Ich kann's ja verstehen. Aber«, sie hört auf zu lächeln und wird unvermittelt laut, »dass Du mich so schamlos anlügst, das finde ich wirklich unverschämt!«
»Was ... Das ...« stottere ich. »Stromsparhirn ...«
Sie brüllt: »Ich hatte nichts, überhaupt nichts von Julia erzählt!!!«
Dann stürzt sie aus dem Zimmer und pfeffert die Tür hinter sich zu.
Ich starre aus dem Fenster. Mein Gehirn versinkt zuerst im Standby-Modus, dann schaltet es sich ganz ab. Recht so. Wozu brauche ich es noch. Strom sparen.