30.12.05

Stefan Arenz

Praktische Überlebenstipps: Kassenschlange

Zur Verdeutlichung: Mit Kassenschlange ist nicht jene junge Dame gemeint, die mich in regelmäßigen Abständen kompetent und freundlich zu Krankenkassenfragen berät, wenngleich auch diese Dame eine eigene Kolumne verdient hätte. Ich meine die Schlange an der Supermarktkasse, in welcher sich viele brandgefährliche Fragen des täglichen Überlebens stellen. Zum Beispiel: Trennt man oder trennt man nicht? Ich gehöre ja zu den notorischen Nicht-Trennern. Ich verweigere mich. Das bedeutet, selbst wenn das dreckige und mit Flecken übersäte schwarze Gummiband vor und hinter meinem mageren Häufchen Einkaufsgut mit den angeberischen Rieseneinkäufen meiner Vor- und Hintermänner vollgerammelt ist, weigere ich mich, wie ein wohldressierter Dackel nach dem obligatorischen Supermarktstöckchen zu greifen und meine Joghurts sauber von den Bananen meines Hintermannes zu trennen. So lautet nämlich die ungeschriebene Supermarktkassenschlangenregel: Ich muss zu meinem Vordermann und mein Hintermann zu mir abgrenzen. Doch ich verweigere mich dem. Ist doch wieder typisch deutsch, nicht wahr. Ich baue keine pedantischen und spießigen Mauern zwischen Dein und mein auf, ich nicht. Selbst wenn es hinterher an der Kasse ein fürchterliches Chaos gibt, weil auch die Kassiererin nicht mehr zwischen mein und sein trennen kann und seine (Hintermanns) drei Bananen fälschlicherweise mir zuschlägt und dann »Sabine Storno Kasse 7« im Supermarkt ausrufen muss, die erst nach ewig langen fünf Minuten herantrottet, während derer ich Blut und Wasser schwitze.

Natürlich erzeugt es gesellschaftlichen Druck, sich dem Trennungszwang zu widersetzen. Natürlich spüre ich seine (Hintermanns) bohrenden Blicke in meinem Rücken, wenn meine Waren sich durch leichten Stau weiter vorne bereits in seinen verkeilen. Je näher sich der breite Haufen Konsumgüter in Richtung Kasse wälzt, desto mehr beginnt Hintermann, unruhig zu zappeln oder zu ächzen. Pawlow lässt grüßen, die Kasse läutet die Glöckchen. Schließlich, das Zappeln ist kaum noch zu ertragen, kann er sich nicht mehr beherrschen und greift ruckartig nach dem kleinen Supermarktstöckchen, welches er sodann mit einem Seufzer der Befriedigung (und einem bösen Blick zu mir, gerne auch verbunden mit einem kleinen Rempler) zwischen seine Bananen und meine Joghurts zwängt.

Doch nicht immer verweigere ich mich dem allgemeinen Trennzwang. Gelegentlich habe ich schlechte Laune und möchte meine Miteinkäufer in ihrer unendlichen Spießigkeit und Pedanterie entlarven. An diesen anderen Tagen trenne auch ich. Doch ich greife nicht bloß nach einem der Supermarktpflöcke, nein, ich nehme mir gleich alle Stöckchen, die frei sind und stopfe sie zwischen meine und Hintermanns Waren. Drei, besser noch vier Pflöcke liegen dann zwischen den Bananen und den Joghurts, und ich fühle tiefe Befriedigung: So. Die Besitzverhältnisse sind geklärt: Hier »Mein«, dort die verminte, dreifach gesicherte Grenze und dann erst »Dein«. Mitunter ernte ich verunsicherte Blicke, wenn ich derart handle, da ich dabei nie grinse. Doch nur wer unkonventionell handelt, erwirbt sich Respekt. Zudem verschafft mir das in der Enge der Supermarktkassenschlange etwas Luft nach vorne und nach hinten. Wir sind hier ja nicht zum Vergnügen. An der Supermarktkasse herrscht eisiger Wind und nur die Stärksten überleben. Es gelten nämlich die zehn ungeschriebenen Supermarktkassenschlangenregeln, von denen Sie gerade Nr. 5 kennengelernt haben:

1. Überlege Dir bereits beim Betreten des Supermarktes, ob und wie viel Du einkaufen wirst und ob Du dafür wirklich einen Einkaufswagen benötigst! Nichts ist unangenehmer, als mit einem einzigen, einsamen Camembert im Einkaufswagen oder -korb in der quälend langen Supermarktschlange zu stehen und den verächtlichen Blicken der besser bestückten Miteinkäufer ausgesetzt zu sein.

2. Das beliebte Platzhalterspielchen ist in einer langen Supermarktschlange strengstens verboten und wird sofort geahndet! Wer also seine Freundin mit der Alibi-Weißweinflasche in der Hand schon mal zur Kassenschlange schickt, selbst aber noch in aller Ruhe einkauft und erst nach geraumer Weile mit überquellendem Einkaufswagen zur mittlerweile kurz vor der Kasse befindlichen Freundin hinzu stößt, kann sich auf gehaltvolle Unmutsäußerungen gefasst machen. Besonders erbost werden diejenigen älteren Herren sein, die der Freundin gerade wegen ihrer Weißweinflasche mit freundlicher Geste den Vortritt ließen (und um einen Blick auf ihr Gesäß zu erhaschen).

3. Das Befördern der Waren aus dem Einkaufswagen auf das schwarze Kassengummiband hat dergestalt zu erfolgen, dass zunächst die harten, dann erst die weichen Güter aufgetan werden. Obwohl es eigentlich niemanden zu interessieren hat, dass die reifen Tomaten ganz unten in Deiner Tasche später auf dem Heimweg von den zuoberst liegenden Konservendosen regelrecht zerrieben würden, wird die Missachtung dieser ungeschriebenen Regel mittels (zugegebenermaßen leichter) Missbilligung bestraft.

4. Halte ausreichend Abstand zu Vorder- und Hintermann! Zwar kann der Abstand bei allgemeinem Platzmangel verkleinert werden, doch der Vordermann sollte nicht bereits Deinen heißen Atem in seinem Nacken spüren. Hier gilt der Eltern-Erziehungssatz: Was du nicht willst, das man Dir tu usw. (Denke daran, dass es auch Dich treffen könnte! Besonders dann unangenehm, wenn hinter Dir ein Alkoholiker stehen sollte. Angehörige dieser bemitleidenswerten gesellschaftlichen Gruppierung, in freier Wildbahn selten zu sichten, gehören zur Grundausstattung jeder besseren Supermarktkassenschlange.) Als Faustregel kann gelten, dass der gebotene Abstand sich irgendwo zwischen Aufzug (größtmöglich, da angezogen) und Sauna (so eng wie möglich, da nackend) bewegt.

5. Wer trennt, verliert! Aber: Wenn schon trennen, dann richtig! (usw, s.o.)

6. Kleingeister verraten sich dadurch, dass sie noch während des Schlangestehens beginnen, hektisch das Kleingeld in ihrem Portemonnaie durchzukramen. Das ist peinliches, degeneriertes Verhalten und eines erwachsenen Menschen unwürdig. Richtig wäre: Erst nachdem die Kassiererin den fälligen Betrag genannt hat, wird mit knappen, selbstbewussten Bewegungen das Portemonnaie aus der Tasche gezogen, aufgeklappt und mit raschem Blick durchgesehen. Nicht rechnen! Dann einen beliebigen Geldbetrag herausfischen und mit arrogantem Gesichtsausdruck der Kassiererin übergeben. Einzige Regel: Es darf nicht weniger Geld sein als verlangt, sonst muss man nachlegen und hat verloren. Alles andere ist unwichtig. Wer auf Nummer sicher gehen will, wählt gleich einen großen Schein. Wird der 100 Euro Schein mit dem nötigen Selbstbewusstsein übergeben, wagt die Kassiererin bestimmt nicht die Nachfrage, ob man die 2 Euro 58 Cent nicht auch kleiner hätte.

7. Flirts mit der Kassiererin, ja selbst einfache Blickkontakte, sind strengstens verboten. Merke: Der Bezahlvorgang an der Kasse ist kein Spaß, sondern ein bitterer Kampf um soziale Anerkennung. Die Kassiererin ist dabei einer Deiner Feinde, ja vielleicht der Hauptfeind. Ausnahme: Sie ist jung und sehr attraktiv.

8. Schlagen alle verbalen und nonverbalen Abwehrmaßnahmen fehl und wagt die Kassiererin sogar den Frontalangriff (»Vielleicht noch 5 Cent klein?«), entgegnet der geübte Supermarktkassenschlangensteher, ohne im Portemonnaie nachzusehen: »Nein, sonst hätte ich es Ihnen ja gleich gegeben, nicht wahr.« Die nötige Prise Arroganz kann nie schaden, denn man will ja nicht gefallen, sondern gewinnen. Wieder gilt: Kleingeister, die nach der Frage der Kassiererin voller Panik beginnen, ihr armseliges Kleingeld nach 5 Cent hin durchzustöbern, gehören auf die unterste Sprosse der sozialen Leiter gesetzt und von stärkeren Mitgliedern ausgiebig bespuckt.

9. Rentner, Alkoholiker oder Obdachlose, die zittrig das Kleingeld auf die Hand der Verkäuferin zählen oder, noch schlimmer, ihr einen undefinierbaren braunen Kloß hinstrecken, aus welchem sie dann selbst die Münzen herauspopeln darf, sowie quengelnde kleine Kinder genießen nur eine kurze Schonfrist, bevor man genervt zu stöhnen beginnen darf.

10. Bargeldlose Bezahlung mittels EC-Karte ist ungefährlich, langweilig, etwas für Weicheier und wirklich nur im Notfall, falls es gar nicht anders geht, ausnahmsweise ohne größeren Gesichtsverlust zulässig. Allerdings: Die benötigte Unterschrift muss betont lässig und undeutlich hingeschludert werden, ohne dass die Kassiererin deshalb an der Identität zweifeln darf! Fragt sie hingegen »zur Sicherheit« nach dem Personalausweis, ist man ein erbärmlicher Versager, hat verloren und sollte sich was schämen.

Na schön. Am Ende dieses kleinen Aufsatzes möchte ich mich um Ausgewogenheit bemühen und Verständnis für den Feind wecken, die Person hinter der Kasse. Einst, kurz vor meinem Studium, stand ich nämlich für wenige Ferienmonate selbst auf verlorenem Posten an der Getränkemarktkasse einer großen Supermarktkette. Ich kenne also die Panik, welche den Kassierer befällt, wenn die Schlange unaufhörlich wächst, weil er selbst zu langsam tippt. Ich weiß, wie der Schweiß rinnt, wenn ihm ein Fehler passiert und er »Sabine Storno Kasse 7« ausrufen muss, die erst nach quälenden fünf Minuten mit der roten Karte in der Hand antrabt, während die Kunden schon mit den Füßen scharren und die Schlange sich mittlerweile einmal durch den gesamten Markt und zurück schlängelt. Zu guter Letzt, weil mir das seit damals auf den Nägeln brennt, eine Bitte im Namen aller Getränkemarktkassierer dieser Welt: Leere Einzelflaschen, insbesondere Bierflaschen, werden dem armen Kassierer im Getränkemarkt nicht ungeordnet in einer großen Plastiktüte überreicht, sondern gefälligst Flasche für Flasche und gesäubert übergeben! Es gibt für Kassierer nichts Widerwärtigeres, als die Hand in eine dieser versifften, klebrigen Tüte tauchen zu müssen, um die leergesoffenen Bierflaschen herauszufischen, und dabei mehrfach in eine brackige, übelriechende Pfütze aus Restbier, Restspucke sowie Keimen aller Art auf dem Boden der Tüte zu patschen. Im Namen aller Getränkemarktkassierer dieser Welt: Danke.