29.07.06

Dominik Baur

Die Verflogene

Manchmal stehe ich an einer Fußgängerampel und warte darauf, daß es grün wird. Die Autos stehen zwar noch alle, aber ich wage nicht zu gehen, denn ich bin sicher, sobald ich die Mitte der Straße erreicht habe, geben sie Gas. Drum warte ich. Natürlich dauert es dann so lange, daß ich die Straße in der Zwischenzeit fünf Mal hätte überqueren können. Nachdem die Autos weg sind, ist plötzlich alles still. Die Ampel ist immer noch rot. Jetzt könnte ich problemlos die Straße überqueren. Niemand würde es merken. Außerdem gehe ich sonst meistens bei rot über die Straße, wenn es der Verkehr zuläßt. Auf Grün zu warten ist provinziell. Aber jetzt kann ich nicht anders. Hab ich erst einmal angefangen zu warten, muß ich warten, bis es grün ist.

Warum?

Ansonsten hätte ich ja am Anfang umsonst gewartet.

Zwischen zwei Rauchschwaden entdecke ich ihr mitleidiges Kopfschütteln. Tiffany hat für so was kein Verständnis. Sie hat nicht den geringsten Sinn für die Bedeutung von Ampeln – und ich meine das noch nicht mal metaphorisch.

Während sie mißmutig in ihrem Café au lait rührt, erzähle ich ihr die Geschichte von Koposzka. Eigentlich erzähle ich sie nicht wirklich ihr. Ich erinnere mich vielmehr laut an den alten Kauz. Die Krähen haben mich daraufgebracht. Vom Fenster des Kaffeehauses aus sehe ich sie auf der Oberspannungsleitung sitzen – als hätte sie Hitchcock persönlich dort plaziert.

Drei oder vier Jahre muß es nun schon her sein, daß wir ihn begraben haben – Koposzka, nicht Hitchcock. Seine letzten Wochen und Monate waren wirklich keine leichte Zeit. Für ihn. Zum Glück hatte er Fridolin.

Koposzka war kein Mensch, mit dem man gerne zusammen ist. Ich selbst habe ihn zuletzt kaum noch besucht im Spital. Ich vermute, es war sein nahezu grenzenloses Selbstmitleid, das ihn für andere schlicht unerträglich machte. Es fraß wohl das ganze ihm zugedachte Pensum an Mitleid auf und machte es seinen Mitmenschen unmöglich, über das Höflichkeitsmaß hinaus an seinem Schicksal Anteil zu nehmen. Mit Fridolin war das anders. Entweder bemerkte er Koposzkas weinerliche Art überhaupt nicht, oder Koposzka verhielt sich ihm gegenüber nicht so wie in unserer Gegenwart. Fridolin – wer hatte ihm eigentlich diesen Namen gegeben? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Klingt wie eine Figur aus einem Bilderbuch.

Koposzka erkannte ihn immer schon von weitem. Selbst wenn Fridolin inmitten von tausenden anderen Krähen angeflogen kam, um sich auf dem Acker vor dem Krankenhaus niederzulassen, bemerkte er ihn von seinem Fenster aus sofort. Zumindest solange Fridolin noch in der Luft war. Es war sein Flugstil, der ihn von all den anderen Vögeln unterschied. Fridolin bewegte seine Flügel nicht synchron, sondern versetzt. Nach der Art eines Schwimmers beim Kraulen. Nicht so wie die anderen Krähen. Koposzka fragte sich oft, ob es rein physikalisch überhaupt möglich sei, sich auf diese Weise in der Luft zu halten. Er bezweifelte es, obwohl ihn der lebende Gegenbeweis fast täglich besuchen kam.

Koposzka ließ das Fenster offen stehen, wann immer das Wetter und die Krankenschwestern es ihm erlaubten. Anfangs rückte er sich dann den Sessel ans Fenster und ließ den trüben Blick über das Feld schweifen, das sich hinter der kleinen Privatklinik von Professor Stuhlbein ausstreckte, als wollte es mal eben die Beine übereinanderschlagen. Bei gutem Wetter – und das Wetter war meistens gut – sah man die Berge. Später dann, als die Metastasen schon fast ihr Werk vollendet hatten, blickte er nur noch vom Bett aus nach draußen. Zu dieser Zeit war es auch, als Fridolin sich plötzlich zu ihm aufs Fensterbrett setzte.

Tiffany versucht es gar nicht erst, ihr Desinteresse zu verbergen. Demonstrativ studiert sie die Karte und bemüht sich dann erfolglos, den Blick der Kellnerin zu erhaschen, die gerade enthusiastisch einer Kollegin von ihren Erlebnissen auf der letzten Loveparade berichtet. Erst als Tiffany wie beiläufig ihre Milchkaffeeschale vom Tisch stößt, zieht sie ihre Aufmerksamkeit auf sich. Mit Schäufelchen und Beselchen und einer Ach-könnten-Blicke-doch-nur-töten-Miene kommt sie an unseren Tisch.

»Na?« war alles, was Fridolin bei seinem ersten Besuch fragte. Ohne auch nur auf eine Antwort zu warten, flog er gleich wieder davon. Doch mit der Zeit blieb er länger. Er kam fast täglich. Sie unterhielten sich über alles Mögliche. Anfangs über Politik, Sport und Metastasen, später dann hauptsächlich über Frauen und italienische Küche. Genaugenommen trifft der Plural natürlich nur auf Fridolin zu. Der sprach über die Frauen an und für sich, einige hübsche Krähendamen im besonderen und seine aktuellen Affären im ganz speziellen. Fridolin war in der Schar als großer Frauenheld berühmt und vor allem berüchtigt. Krähen sind monogam, aber davon wußte Fridolin zum Glück nichts.

Koposzka dagegen, der alte Romantiker, sprach immer nur von einer Frau. Es war seine große Liebe. Aus der Zeit vor dem Krebs. Ich glaube, sie hieß Dorothee. Oder Anneliese. Oder Eleonore. Ist ja auch egal. Ein mittelhübsches, verschüchtertes Wesen. Aber – eigentümlich genug – sie schien ihn wirklich zu mögen. Er behauptete, sie verlassen zu haben, als er von der Krankheit erfuhr. Um ihr den Schmerz zu ersparen. Ich glaube das nicht. Es gibt zwei Sorten von Menschen: Die einen verlassen; die anderen werden verlassen. Und Koposzka gehörte nun mal eindeutig zur zweiten Kategorie. Auch wenn Tiffany sagt, es gebe zwei Sorten von Menschen: die einen, die die Welt sähen, wie sie sei – kompliziert und nicht immer logisch -, und die anderen, Idioten wie mich, für die es nur Schwarz und Weiß gebe.

Fridolin hörte sich Koposzkas gefühlsduselige Geschichten von seiner Verflossenen stets geduldig an. Er selbst nannte sie immer nur die Verflogene und kam sich wahnsinnig witzig dabei vor. Er war schon ein komischer Vogel – mit einem äußerst merkwürdigen Humor.

So verflog die Zeit. Eine Zeit, in der Fridolin so manches Krähenherz brach und Koposzka so manche Chemotherapie vergeblich über sich ergehen ließ. Aber eines Tages, Koposzka hatte nicht mehr viel Zeit, kam es dann zu diesem unseligen Streit.

Am Morgen war Fridolin noch gutgelaunt wie immer ans Fenster gekommen und hatte seinen Freund mit der üblichen Floskel begrüßt. »Na, wie geht's uns denn heute?« Fridolin hatte sich längst den Krankenschwesterplural angewöhnt. »Dir prächtig, wie ich sehe«, hatte Koposzka, ebenfalls ganz ihrer täglichen Routine folgend, geantwortet, »und ich sterbe.« Er erzählte ihm seinen jüngsten Traum – der natürlich mal wieder von seiner kleinen Ehemaligen handelte. Und dann beging er den fatalen Fehler – er bat Fridolin um einen Gefallen. Er habe da eine kleine Botschaft aufgeschrieben, einen letzten Gruß zum Abschied sozusagen. »Nicht sehr originell«, lächelte er unbeholfen, »aber wenigstens wiegt es nicht viel.« Fridolin äugte auf das Papierröllchen. »Koposzka liebt Dich«, stand da.

Der Vogel lachte sich kaputt. Nein, originell sei das wirklich nicht, fand er und gluckste. Er habe sich gedacht, fuhr Koposzka fort, wenn der Zettel als ganz persönliche Luftpost überbracht würde, wäre das doch besonders romantisch, und schaute Fridolin bittend an. Da war es aus. Fridolin verschluckte sich an seinem Lachen.

Wen er denn glaube, vor sich zu haben, schrie er seinen sterbenden Freund an. Ob er aussehe wie eine Brieftaube? Es gebe ja wohl nichts Entwürdigenderes für eine stolze Krähe als Briefträger zu spielen. Fridolin war völlig außer sich. Er kreischte in einer Höhenlage, daß in der Klinik so manches Reagenzgläschen explodierte und sich etliche Urin- und Blutproben über den Resopalboden ergossen.

Ohne ein Wort des Abschieds flog Fridolin schließlich davon.

Tiffany spielt mit dem Salzstreuer. Und schaut aus dem Fenster. Die Krähen sitzen nicht mehr dort. Es hat zu regnen angefangen. Hurtig hasten draußen beschirmte Gestalten vorbei. Eine Woge nasser Studenten brandet lärmend in die Stille des Kaffeehauses. Über den Tisch kullern die Salzkörnchen. Ob sie mir noch zuhört?

Tags darauf bekam ich dann den Anruf von Professor Stuhlbein. Lächerlich, daß Koposzka ausgerechnet mich von seinem Tod informieren ließ. Ich habe nun wirklich viele Freunde, aber Koposzka zählte bestimmt nie dazu. Mit ein paar Kumpels ging ich zur Beerdigung, und danach versoffen wir beim Leichenschmaus das wenige Ersparte, das Koposzka zurückgelassen hatte. Geschmacklos, findet Tiffany. Aber wir haben ihn hochleben lassen. Wahrscheinlich war der Tag, an dem wir ihn eingeschaufelt haben, der einzige, an dem uns Koposzka so richtig sympathisch war.

Es war Monate später, als Koposzkas Verflossene, jene Dorothee oder Anneliese oder Eleonore, eines Morgens aus ihrem Haus, einem dieser häßlichen Betonklötze in Neuperlach, trat und sich auf den Weg zur S-Bahn machte. Natürlich wußte sie nicht, daß ihr Ex inzwischen draußen am Ostfriedhof lag. Gleichwohl mag sie, während sie ging, an ihn gedacht haben, als sich plötzlich über ihr am Himmel seltsame Dinge taten. Eine Krähe mit einem ganz eigenartigen Flügelschlag bewegte sich dort oben in wirren Schlangenlinien. Geradeso als ob sie betrunken sei oder versuchte, etwas in den Himmel zu schreiben. Kinder schauten nach oben und lachten.

Hätte jemand sehr genau hingesehen, hätte er vielleicht erkannt, was der komische Vogel an den Himmel zu schreiben versuchte. Aber das tat keiner. Dorothee oder Anneliese oder Eleonore schon gleich gar nicht. Sie gehört nicht zu den Leuten, die zum Himmel schauen.

Tiffany fragt mich, woher ich das weiß. Wenn niemand genau hingesehen habe, könne ja auch niemand von Fridolins Schreibversuchen wissen. Ob ich denn mit Fridolin gesprochen hätte? Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Natürlich habe ich nicht mit Fridolin gesprochen. Außer Koposzka hat überhaupt nie irgendwer mit diesem eigenartigen Tier geredet. Aber manche Sachen weiß man eben. Tiffany zündet sich an der Kerze ihre siebte Zigarette an. Irgendwo stirbt gerade ein Seemann. Wahrscheinlich denkt sie jetzt wieder, ich hätte mir die ganze Geschichte nur ausgedacht.