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»Nähte des Grauens oder
Wie Du Bär so man Dir« vorgetragen von Nicole Franz
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).

21.07.00

Nicole Franz

Nähte des Grauens oder
Wie Du Bär so man Dir

Zu den grausamsten Dingen, die meine Eltern mir je antaten, gehörte ein dunkelbrauner Teddy namens »Bubu«. Mein Bruder hatte ihn zur Geburt in die Wiege gelegt bekommen. Als mir im Alter von ungefähr acht Jahren klar wurde, dass ich selbst kein Stofftier besaß, das mich derart lange begleitete, entdeckte ich ein neues Gefühl: Neid.

Doch Neid macht erfinderisch. Und so sollte einer meiner Stoffbären dafür herhalten, ein Bubu zu werden. Die ersten Probleme setzten schon mit der Namensgebung ein. »Bubu«, der Name aller Namen, war schon vergeben. Kreativität aber kostet Zeit, deshalb entschloss ich mich nach einigen Hin und Her für »Bubo« bis heute eine zweitklassige Wahl.

Nun mussten sichtbare Maßnahmen zur »Rundumveralterung« getroffen werden. Wer jemals versucht hat, einem Stofftier das einmalige Aussehen eines jahrelang zerliebten Gefährten zu verleihen, kann ermessen, vor welchen Schwierigkeiten ich stand. Dabei war Bubo durchaus von geeignet minderwertiger Qualität: kein Markenfabrikat mit Knopf im Ohr und Qualitätsgarantie. Er wehrte sich wohl einfach und gab sich der stillen Gewissheit hin, irgendwann wieder zwischen seinen Gefährten auf dem Bett zu sitzen, als wäre nie etwas geschehen.

Wie es der Zufall wollte, erhielt ich überraschend Unterstützung, und zwar aus nächster Verwandtschaft. Meine Tante, eine Krankenschwester, versorgte mich in vertrauensseliger Weise mit unaussprechlichen Gerätschaften, gut geeignet, Menschen länger leben und Teddybären deutlich altern zu lassen.

Unter den sich nun eröffnenden Methoden entwickelte sich die Infusion zu meiner bevorzugten. Hierfür nehme man eine Infusionsflasche (Wasser einfüllen und mit Gummistöpsel abdichten), daran ein langer Infusionsschlauch (mit Rädchen zum Regulieren der Durchflussmenge) und versenke am anderen Ende eine Nadel tief im Bärenleib. Erst neulich fiel mir ein altes Foto in die Hände, das vom grausamen Bärenexperiment Zeugnis ablegt: auf der Terrasse eines Ferienhauses im idyllischen Odenwald. Mit der konzentrierten Miene einer ernst zu nehmenden Wissenschaftlerin recke ich die Infusionsflasche linker Hand empor, während ich mit der Rechten die Tropfenfrequenz erhöhe, um die Sättigungsgrenze der längst triefend nassen Wattefüllung des Opfers zu eruieren.

Es dauerte lange, bis Bubo Spuren meiner Behandlung erkennen ließ. Irgendwann platzte die Rückennaht oberhalb seines Stummelschwänzchens auf und musste – möglichst sichtbar – wieder zugenäht werden.

An seine Odyssee erinnerte ich mich, als ich Jahrzehnte später unvermittelt von einer Fistel steißgesucht wurde. Eine Fistel ist nicht etwa jenes dekorative Baumgewächs, das im Winter unter dem Türpfosten hängt und den traditionellen direkten Kussabtausch erfordert. Auch die sogenannte »Fistelstimme« folgt nicht zwingend aus ihrem Befall. Es fängt ganz einfach damit an, dass es am anderen Ende weh tut: so, wie wenn man beim Rollschuhlaufen blitzschnell mit dem Hintern gebremst hat. Chirurgen erkennen sie schon aus fünf Metern Entfernung, weil der von ihr Befallene im Wartezimmer partout nicht sitzen will. Tatsächlich handelt es sich um einen Hohlraum im Sitzfleisch am und um den Steiß herum. Er entzündet sich, eitert und kann enormen Fleiß darin entwickeln, lange Kanäle zu bilden.

Ich hatte die Wahl, den Störenfried ambulant entfernen zu lassen oder mich im Krankenhaus einer Operation zu unterziehen. Im vollen Bewusstsein meiner Feigheit entschied ich mich für die vollkommene Bewusstlosigkeit.

Man hatte mich seelisch darauf vorbereitet, nach dem Eingriff ein brauchbares Ziel auf dem Golfplatz abgeben zu können, denn die Wunde sollte durch eine »radikale Excision« – also großflächig und tiefschürfend – bearbeitet werden. Ob man den Krater dann vernäht, wollte man aber erst unter dem Skalpell entscheiden. Ich sei ein untypischer »Steißbeinfistler«, versuchte der Arzt mich zu beruhigen. Dieser nämlich sei männlich, dunkelhäutig und auch rückwärts stark behaart. Ein schwacher Trost.

Es sollte eine Woche dauern, bis mein Krankenhausbett frei wurde. Bis dahin gruben sich einmal täglich die gnadenlosen Hände einer Arzthelferin in meine private Elbtunnelröhre. Tupfen, popeln, tupfen, popeln. Ich schlug die Zähne ins braune Kunststoffpolster der Behandlungsliege und machte die profunde wie profane Erfahrung, dass Schreien hilft.

Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Über mir schweben eine Maske, aus der reiner Sauerstoff strömt, die freundliche Anästhesistin und dahinter ein Schaubild mit den bedrohtesten Tierarten der Erde. Das gemeine Walross trampelt Skandinavien nieder, ein Rhinozeros zermalmt den Kongo, aber was zum Kuckuck macht sich da in Nordamerika zu schaffen? Bubo?

Nachdem ich zu mir gekommen und die Umgebung wieder in ihre Dreidimensionalität gerückt war, verbrachte ich die folgenden Nächte mit der Verfeinerung meiner Schlaftechnik: bäuchlings liegen und nicht ersticken. Dreißig Jahre konsequente Rückenlage und fehlende Übung im Kopfschütteln hatten meinen Schädel fester auf die Schultern geschraubt als das Vakuum den Deckel auf das Gurkenglas. Irgendwann aber knackt es, und er lässt sich drehen.

Tagsüber schlich ich gekrümmt über die Linoleumgänge, ein stummes Loblied singend auf meinen vorsorglich gekauften Wickelrock, der mir ein zivilisiertes Aussehen verlieh und die Bademantel-Gummischlappen-Liga der Station deutlich verstörte: »Ach, Schwester?!«

Lesen war schmerzfrei nur im Stehen möglich – auf Dauer aussichtslos! Unterdessen redeten meine Zimmernachbarinnen zur Rechten und Linken zielsicher aneinander vorbei. Die eine war schwerhörig, die andere gab zwanghaft jeden banalen Gedanken zum Besten. Immer wiederkehrende Themen der Szenen (die einen Ionesco sicher zu unwillkürlichen Begeisterungsstürmen hingerissen hätten) waren das Essen, seine Konsistenz, das Wetter oder die Vorzüge eines künstlichen Darmausgangs, was anschaulich bewiesen wurde. Und dazwischen ich, hilflos, genäht und mitten im Epizentrum eines Paralleluniversums.

Vor dem Haupteingang schien die Sonne, einmal spielte ich mit dem Gedanken, einfach zu gehen. Vier U-Bahn-Stationen bis zum Alltag. Es tat weh. Also wartete ich ergeben auf meine Entlassung. Denn Bubo sagt: Halte durch. Irgendwann kommt der Tag, an dem auch Du wieder ganz selbstverständlich zwischen zwei Dutzend Stofftieren auf dem Bett sitzen kannst.