Überarbeitete Fassung vom Dezember 2006:

22.12.04

Nicole Franz

Um Himmels Willen.
Eine Weihnachtsgeschichte

In der Krippe lag ein Mädchen. Fassungslos starrte Josef auf das winzige Neugeborene im Stroh.

Zuerst war Maria und ihm gar nicht aufgefallen, dass etwas Entscheidendes fehlte zum angekündigten Gottessohn. Kaum hatte sich das kleine Wesen aus Marias Bauch gekämpft und mit einem Schrei ins Dämmerlicht der Scheune befreit, waren sie zu überwältigt gewesen von Ehrfurcht und Erschöpfung.
Außerdem verließen sie sich doch auf das Wort eines Erzengels, wonach Maria einen Jungen zur Welt bringen würde, und wer waren sie, eine göttliche Prophezeiung in Frage zu stellen? Aber als Josef das Kind hochgehoben hatte, um die Nabelschnur zu durchtrennen, stellte er fest, dass da wohl etwas nicht stimmte.

»Es ist ein Junge, Josef. Es muss ein Junge sein. Schau noch einmal genau nach, vielleicht ist er ja versteckt.« Nein, es war ein Mädchen, gesund und kräftig. »Wie sollen wir es denn jetzt nennen? Jesus kann sie ja nicht heißen«, witzelte Maria. Aber Josef war nicht nach Späßen zu Mute. »Er hat ganz sicher gesagt, es wird ein Junge!«

Auf einmal klopfte es an der Scheunentür. Sollten das etwa schon die Hirten sein? Oder die Heiligen Drei Könige? Josef hatte in der Aufregung völlig vergessen, dass mit der Geburt des Heilands (der Heiländerin?) der Trubel erst richtig losgehen würde.
»Wir sagen erst einmal gar nichts. Unter Umständen klärt sich das Ganze von allein auf«, konnte er Maria gerade noch zuraunen, bevor die Tür aufschlug. Dann drängten sich schon die ersten Schafe herein. Draußen war es kalt, und im Nu hatten Herde und Hüter den ganzen Raum ausgefüllt. Maria und Josef zogen sich in eine der hinteren Ecken zurück, einerseits weil sie an der Krippe ohnehin erst einmal nicht vermisst wurden, andererseits wegen des strengen Geruchs, den Tiere und Männer ausdünsteten.

Das Baby begann zu schreien. Die Hirten fielen ehrfürchtig auf die Knie. Auch Maria musste sich setzen. Sie hielt sich ihr Kopftuch vor die Nase. Josef schob ihr ein Bündel Stroh hinter den Rücken und versuchte, sie zu beruhigen. »Es heißt, Könige bringen zu solchen Gelegenheiten Weihrauch mit. Das wird den Gestank ein bisschen überdecken«, sagte er. Aber die Heiligen aus dem Morgenland ließen auf sich warten.

Die Hirten waren einfache Männer, die Tag und Nacht draußen verbrachten, ungewaschen und gesellig. Selten sah man sie ohne ihre Hunde. Nur wenige suchten ihre Nähe. Wer allerdings wissen wollte, wie das Wagenrennen in Nazareth ausgegangen war oder der Ringkampf in Kapernaum, kam an ihnen nicht vorbei, denn sie streiften weit durch die Lande. Sie hatten oft den richtigen Riecher, wenn es um den neuen Champion im Kolosseum ging. Ihre Tipps waren begehrt und teuer. Sie zogen mit ihren Herden von Stadt zu Stadt, von Weide zu Weide, und kehrten gern ein, wo etwas los war: Wettkämpfe, Märkte, Steinigungen.

Seit Wochen hatte jeder Bewohner von Judäa, der nicht taub oder tot war, vom Schafhirten seines Vertrauens gehört, dass bald ein Erlöser geboren werden sollte, ein Gottessohn, der Retter der Welt.
Die Nachricht hatte eingeschlagen wie der Blitz in den Ölberg. Im Nu vertonten die ersten Straßenmusiker die Prophezeiung, wie immer in der Hoffnung, endlich unter die ersten drei »Weisen aus dem Morgenland« zu kommen, Winzer nannten ihre Weinsorten »Frucht Mariä« oder »Josefs Bester« und ein Seifenhändler sprach sogar frech von »unbefleckter« Empfängnis dank seines Erzeugnisses.

Josef hatte der Aufruhr um den kommenden Heiland kalt gelassen. Er war Zimmermann, pragmatisch und skeptisch, auch in diesen Zeiten. Wunder erwartete er als Letztes. Bis er diesen Traum gehabt hatte. Danach war sowieso alles anders geworden.
Natürlich hatte Maria eine Weile gebraucht, bis sie begriff, dass sie den Herrscher der Welt im Leib trug, und seine Eltern hielten Josefs Geschichte von der nächtlichen Prophezeiung nach wie vor für das Resultat eines feucht-fröhlichen Richtfestes.
Aber Josef hielt von nun an die Ohren offen und versuchte mehr darüber herauszufinden, wie genau der neue Heiland auf die Welt kommen sollte. Schließlich wollte er alles richtig machen und der Prophezeiung des Engels keine Steine in den Weg legen.
Mit einem Hanfseil, in das sie in kleinen Abständen Knoten geschlungen hatte, kontrollierte Maria jetzt täglich ihren Leibesumfang. Josef tat vor Herzklopfen kaum ein Auge zu. Er kleidete sich sauberer und ordentlicher als sonst, hörte mit dem Rauchen auf und verabschiedete sich zu Marias Entzücken sogar von seiner Vorliebe, nach dem Frühstück länger als nötig an der Grube hinter dem Haus zu sitzen. Der Gedanke, vielleicht während seiner Morgensitzung vom Boten Gottes aufgesucht zu werden, um noch letzte Anweisungen zu erhalten, behagte ihm gar nicht. Für sein Gemüt war es schon eine Zumutung gewesen, so einem im Traum zu begegnen.

Einen Traum wie diesen hatte er noch nie geträumt: Er hatte im Haus seines Vaters gekniet und war dabei gewesen, einen Holzboden aus Zahnstochern zu verlegen. Hölzchen an Hölzchen fügte er zu einem komplizierten Muster, als auf einmal ein leibhaftiger Engel hinter ihm stand und sprach: »Josef, was um Gottes Willen tust Du da?«
Josef zuckte unwillkürlich zusammen. »Ich verlege Zahnstocher.« Der Engel trat ein. Mit dem Saum seines langen Gewandes vernichtete er die Arbeit der letzten Stunden.
Während Josef noch darüber nachdachte, ob er träumte oder warum es ihn gar nicht irritierte, dass er Zahnstocher zu Parkett verarbeitete, erwiderte der Engel: »Du wurdest nicht geboren, um im Hause deines Vaters auf Knien herumzurutschen.« Das leuchtete ihm irgendwie ein und so stand er auf. Da sprach der Engel weiter: »Geh hinaus zu deinem Weib, pack' ein paar Sachen zusammen und sag' Deinen Eltern auf Wiedersehen. Es wird endlich Zeit, dass Du für Deine eigene Familie den Boden bereitest. Josef und Maria werden einen Sohn bekommen, und der wird sich auch um deinen Vater kümmern.«
Josef sah die Zahnstocher zu seinen Füßen. »Und was soll mit dem Parkett werden?« Ihm entging nicht der abschätzige Blick, den der Geflügelte auf den Boden warf, als er antwortete: »Josef, wahrlich, ich sage Dir, nimm ein Hölzchen aus dem Stapel heraus, ohne dass ein anderes wackelt, und Dir wird geholfen werden.« Doch bevor Josef zu einem Zahnstocher greifen und ihn ganz herausziehen konnte, war er aufgewacht.

»Ich hätte bestimmt nicht gewackelt!« Im Stall war die Luft nicht besser geworden.
»Was sagst du?« Maria kämpfte sich mit einer dampfenden Schale Tee, die sie von den Hirten im Tausch gegen ein Stück Windel erworben hatte, durch die Schafherde hindurch. Josef winkte ab. »Ach nichts. Ich musste nur eben an meinen Traum denken, weißt Du, den mit der Prophezeiung.«
Maria seufzte und legte sich das Strohbündel noch einmal zurecht, bevor sie sich neben ihm fallen ließ. »Ich hatte es mir auch anders vorgestellt, die Mutter Gottes zu sein. Irgendwie erhabener. – War es denn wirklich nötig, nach Bethlehem zu wandern, um das Kind zu bekommen? Ich meine, es gab doch eine Menge leerer Wohnungen, in die wir hätten ziehen können. – Und wo bleiben die heiligen drei Könige mit ihrem Weihrauch? Ich frage mich, wie die Kleine den Gestank erträgt!« – »Psst!«, zischte Josef. In diesem Moment erbebte die Hütte.

Mit einem Satz waren alle Schafe auf den Beinen, Hirten und Hunde drängten sie nach draußen, Maria stürzte zur Krippe und riss ihre Tochter heraus, bevor sie von der Stampede zu Boden geworfen wurde. Erschrocken schnappte sich Josef die beiden und drängte sie wieder in eine der Ecken. Dann sprang er durchs Fenster nach draußen. Es gelang ihm, den ältesten der Hirten am Ärmel zu fassen und zurückzuhalten. Das Geblöke der Tiere war ohrenbetäubend, er musste den Mund dichter an das Ohr des Mannes legen, als es seine Nase erlaubt hätte. »Was ist los? Warum haut ihr alle auf einmal ab?« Der Hirte aber zeigte nur Richtung Süden und schenkte ihm sein zahnloses Lächeln.

Dort, wenige hundert Meter von ihnen entfernt, über einer der benachbarten kleinen Scheunen strahlte am Himmel ein wirklich eindeutig göttlicher Hinweispfeil. Das Innere der Hütte leuchtete so hell, dass Josef die drei kostbar gekleideten Männer vor der Krippe sofort erkannte.

Der Hirte klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und eilte den anderen wieder hinterher. »Ihr habt Euch geirrt? Ihr seid doch die Hirten! Ich dachte, auf Eure Informationen ist Verlass? Ich dachte, Ihr habt den richtigen Riecher?«, rief Josef ungläubig. »Na ja, wir waren dicht dran!«, hörte er den Mann noch antworten. Josef setzte ihm ein Stück weit nach. »Wir haben ein Mädchen!«. Da blieb der Mann stehen, drehte sich noch einmal zu ihm um und lachte: »Und du hättest garantiert gewackelt.«