03.05.06

Wilhelm Ruprecht Frieling

Verehrte E-Mails!

Verehrte E-Mails, ich hasse Euch und biete Euch gleichwohl ungehinderten Zugang in mein privates Königreich. Schon im Morgengrauen stehe ich wie ein König auf meines Daches Zinnen und halte süchtig nach euch Ausschau: meinen elektronischen Postkasten plündere ich stets als erstes. Ich erwarte keine bestimmten Briefe, niemand schuldet mir Antwort, auf die ich etwa fieberhaft warte, und auch mein Lebensglück ist fraglos von anderen Faktoren abhängig. Dennoch nimmt mich der Ruf »Sie haben Post!« augenblicklich gefangen, als könne ausgerechnet durch das elektronische Fenster etwas total Veränderndes, alles Entscheidendes, komplett Neues eintreffen. Es ist das irrationale Warten auf Godot im virtuellen Raum.

Heute raubt mir vor dem ersten Bissen ein namenloser »Headhunter« die gute Laune und schmälert die Lust auf ein erquickendes Frühstück. Er habe mich für den Vorstand eines neu gegründeten Großunternehmens auserkoren: ich solle mich gleich bei ihm melden, damit er mir nähere Informationen zukommen lassen könne. – Ein neuer Schachzug der Nigeria-Connection? Nach der Devise »Zahlen Sie eine Bewerbungsgebühr von X auf dieses und jenes Konto ein, dann verdienen Sie nur durch reine Anwesenheit satte Millionen!«, will mir der Affe wohl schon am frühen Morgen ins Hirn scheißen! – Weg mit der Mail!

Warum erwarten mich selten positive Nachrichten im morgendlichen Posteingang und erzeugen kreative Energien: ein liebes Dankeschön von einem flüchtigen Bekannten, den ich seit langem mit meinem Newsletter nerve; ein begeistertes Wort der Leserin eines meiner Bücher oder Kommentare; der süchtige Ruf eines lunatischen Lektors nach neuen Texten! Das ist die Post, von der ein Schreiber träumt, und mit der sich ein Tag genussvoll beginnen lässt! – Stattdessen: Müll, Junk, Spam!

Der Tee zieht friedlich drei Minuten, da lockt der elektronische Briefkasten erneut: »Sie haben Post!« Ein Heilpraktiker will fünf Manuskripte zurück, die er vor Jahren einem Dr. K. anvertraut habe, der derzeit im »Umbruch« sei und mir angeblich seine Geschäfte übertragen will! – Lebe ich unter Irren? – Ich kenne weder den im Umbruch befindlichen Herrn und sein Unternehmen noch die verirrten Werke des Möchtegernautors. Vor allem sein letzter Satz bringt mich richtig auf die Palme: »Da Sie ja sicherlich ein ordentliches Unternehmen führen, werden meine Unterlagen wohl aufzufinden sein!« – Pustekuchen, Baby! Mit welchem Schrott soll ich mein dünnes Nervenkostüm denn noch belasten?

Der Tee ist serviert, da trudeln zwei Einladungen zu Ausstellungseröffnungen ein; ein Hotelkonzern meldet, er habe jetzt auch im Finschgau, Pinzgau oder weiß ich wo eine Dependance eröffnet, die ich unbedingt besuchen soll; die Mailingliste der »Pranier«, auf die ich mich leichtsinnig und aus purer Neugier setzten ließ, verspricht, dass ich mich ab sofort nur noch von Lichtenergie ernähren könne und keine stoffliche Nahrung mehr benötige; ein Börsenguru verrät mir und nur mir allein, warum ich meinen Spargroschen in ein geheimnisvolles Aktienpaket investieren soll … es ist zum junge Hunde kriegen!

Nach der ersten Tasse des Blütengolds von den Hängen des Himalajas überfliege ich eine verführerische private Mail aus der Schweiz: eine Debütantin bietet mir 500 Schweizer Franken, wenn ich Ihr Manuskript lesen und ein kurzes Gutachten dazu verfassen würde. Ich mache den Fehler und antworte, darauf derzeit keine Lust zu haben, statt den Brief schlicht zu ignorieren. Sie sitzt wahrscheinlich ebenso wie ich gerade am Frühstückstisch und schreibt sofort charmant zurück, erhöht ihr Gebot und meint, ich solle (»Wimpernklimpern«) eine Ausnahme machen … Danke, ich mag nicht, ich werde mit meinen eigenen Projekten kaum fertig, und außerdem knurrt mein Magen mittlerweile mächtig. Jetzt wird gefrühstückt! – Ihre dritte Mail schnipse ich ungeöffnet in den Papierkorb. –

Liebe Leute, hört mein Flehen! Die einfache Wahrheit lautet schlicht und einfach: ein Autor will geliebt werden! Seine sensible Seele möchte von morgens bis abends mit Lob, Bestätigung, Anerkennung und Streicheleinheiten bestäubt werden. Das ist der wahre Grund, warum er sein Licht entzündet und schreibt. Er will keine lästigen Bittbriefe, die ihm seine so unendlich kostbare Zeit stehlen. Er hofft auf ein kleines bisschen Liebe, ein Bröckchen Aufmerksamkeit, einen honigsüßen Tropfen vom Nektar allumfassenden Glücks. So schlicht und einfach ist der schreibende Mensch gestrickt. – Ob sich das die Versender der vielen E-Mails bewusst machen und vielleicht endlich einmal hinter ihre Ohren schreiben? –

Verehrte E-Mails, ich liebe und ich hasse euch zutiefst! – Trotz alledem: gleich morgen schaue ich als erstes nach Euch! Großes Indianer-Ehrenwort.