Zum 20. Jahrestag der Verschmelzung beider deutscher Staaten blafft mich die BILD-Zeitung mit fetten Lettern an: »Sind Sie ein guter Deutscher?« – Hups! Ob ich ein guter Deutscher bin? – Die Beantwortung dieser Frage überlasse ich besser eigens darauf spezialisierten Behörden, die dafür entlohnt werden, dies mehr oder weniger kompetent zu ermitteln.
Nach drei Jahren Wühlarbeit deutscher Amtsschimmel halte ich nämlich endlich meine Stasi-Akten in Händen, die dazu aussagen könnten. Zum Preis von € 11,27 liefert mir der Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen ein Stück Lebensgeschichte ins Haus, die eine lang versunkene Zeit dokumentiert. 204 Seiten lang werde ich schriftlich daran erinnert, wann genau ich Anfang der 1980er Jahre als akkreditierter Journalist in die DDR ein- und wieder ausgereist bin, was ich im Landesinneren tat, worüber ich schrieb und wie mich die DDR-Spionageabwehr dabei kontrollierte.
Journalisten gelten in allen gesellschaftlichen Systemen als unbequeme Geister und sind den jeweiligen Machthabern nur dann willkommen, wenn sie als willige PR-Sprachrohre fungieren. Da mir ein entsprechender Wille fehlt, wurden meine privaten Einreisen in die DDR genauso wie offiziell genehmigte journalistische Vorhaben detailliert beobachtet. Die Stasi verdächtigte mich dabei unter anderem, für eine unbekannte »KMHB« tätig zu sein, und Google weiß, dass diese Abkürzung »Kriminelle Menschenhändler-Bande« bedeutet.
Überwacht wurde ich auch wegen des Verdachts, gegen §97 (»Landesverrat« = Spionage), §105 StGB (»Staatsfeindlicher Menschenhandel« = Fluchthilfe) und §213 (»ungesetzlicher Grenzübertritt«) verstoßen zu haben. Detaillierten Beobachtungsprotokollen entnehme ich dazu unter anderem, am 25.11.1980 um 12.35 Uhr mit einer männlichen Person am Bahnhof Neustadt/Dosse gesprochen zu haben, die eine »mehrfach gefaltete Zeitung« aus der linken Jackentasche holte, über die ich mich dann »interessiert beugte«. Verhält sich so ein »guter Deutscher«?
Ich finde Briefkopien an einen befreundeten bulgarischen Arzt, der seinerzeit in Jena arbeitete und den Schnüfflern höchst verdächtig schien. Leider fehlt aber jeder Hinweis auf dessen damalige Ost-Berliner Freundin, die ich heißblütig von ihm übernahm. Und das empört mich wirklich! Denn ich hatte von der Akte saftige Sexfotos und orgiastische Videos erwartet, weil ich in jungen Jahren die Interhotels in Dresden, Leipzig und Berlin zum Beben brachte und erst im Nachhinein erfuhr, dass ganze Etagen verwanzt waren.
Wo sind die Informationen über die DDR-Fräuleinwunder geblieben, die mich in jenen bewegten Zeiten als junger Ost-Reisender beglückten? Als guter Deutscher hatte ich mich doch damals unter vollem Körpereinsatz der Verschmelzung der beiden deutschen Staaten hingegeben. Doch für solche Akte praktischer Völkerverständigung interessierte sich die Staatssicherheit nicht.
So gesehen enttäuscht mich meine Stasi-Akte auf der ganzen Linie. Ich hatte mir deftige Intimitäten erhofft, die meine alten Augen aufleuchten und mich in wollüstigen Jugenderinnerungen baden lassen würden ... Stattdessen minutiös notierte Langeweile in grauer Städte Mauern. Die Unterlagen schweigen jedenfalls still zur Frage, ob ich ein guter Deutscher bin und blicken starr nach West.
Dabei waren die Stasi-Typen aus Deutschland-West keinen Deut besser. Vor Jahren gab es in Westberlin ein schmales Zeitfenster, das Journalisten ermöglichte, sie betreffende Unterlagen des Verfassungsschutzes (West) zu lesen. Das nutzte ich und setzte die Genehmigung auf Akteneinsicht durch.
Im tiefsten Keller des Westberliner Staatsschutzes am Fehrbelliner Platz konnte ich unter den Argusaugen von zwei beigefarbenen Beamten umfangreiche Akten durchblättern. Abschriften oder Fotokopien waren verboten. Dabei waren neunzig Prozent des Konvoluts geschwärzt: Materialien ausländischer Geheimdienste waren nicht zur Besichtigung freigegeben. Deren Berichte werden kaum wesentlich ergiebiger gewesen sein, die gesamte Akte zeigte mir aber, dass damals bereits Kinder und Jugendliche Ziel einer umfassenden geheimpolizeilichen Observation waren.
So erfuhr ich unter anderem, dass ich als Siebzehnjähriger anno 1969 ein selbst gestaltetes Plakat mit der Losung »Amis raus aus Vietnam« über den Kurfürstendamm trug und Sprüche wie »Bürger runter vom Balkon, unterstützt den Vietcong« skandierte. Ja, auch im vermeintlich goldenen Westen wurde jeder meiner Schritte von wackeren Geheimagenten beobachtet und aufgezeichnet. »Frieling überquert den Kurfürstendamm Richtung Gedächtniskirche und trägt ein Transparent. Mehrere Personen folgen ihm.« Diese und ähnlich tief schürfende Beobachtungen fand ich im abhörsicheren Keller des Berliner Verfassungsschutzes.
Immerhin erfuhr ich durch die Lektüre, dass ich an jenem Tag eine frische Frikadelle mit Brot und Senf verzehrte. Es war keine »Boulette«, wie der waschechte Berliner den scharf gebratenen Fleischklops nennt, es war eine hochdeutsche »Frikadelle«, die mein persönlicher Schlapphut notierte, der vielleicht ebenso wie ich frisch aus Westdeutschland nach Berlin (West) umgezogen war.
Somit kann ich nun anhand diverser Aktengänge beweisen, aktiv gegen den Vietnamkrieg eingetreten, Fleisch gegessen und aus der DDR berichtet zu haben. Aber erweise ich mich durch diese Taten als »guter« Staatsbürger? So frage ich BILD: Sehr geehrte Chefredaktion, was meinst du? Bin ich ein guter Deutscher???