09.06.07

Wilhelm Ruprecht Frieling

Willkommen im Second Life

»You wanna make sex with me?«, fragt mich ein Busenwunder in knappen Shorts und platinblonden Haaren. – Ob ich Sex mit ihr will? – Na ja, im Moment passt es mir schlecht. Gerade bin ich auf der Begrüßungsinsel von Second Life angekommen und irre dort orientierungslos umher. Nach einem kurzen Lernprogramm kann ich zwar bereits sprechen, rufen und habe verschiedene Gesten erlernt. Ich bin sogar in der Lage, zu pfeifen und Hula zu tanzen. Zum Sex fühle ich mich aber noch außerstande. »Ich würde lieber von hier verschwinden«, tippe ich auf Englisch in mein Antwortfeld und schieße es in den virtuellen Schlund. Dass jemand einfach nur die Insel erkunden statt an ihr schnuppern möchte, hat die Schöne wohl nicht erwartet. Beleidigt rauscht sie ab.

Ich bin in meinem zweiten Leben gelandet, im »Second Life«, der Internet-Plattform, die sich mit Affenzahn entwickelt und bereits von sieben Millionen Menschen aus allen Teilen der Welt besiedelt ist. Täglich kommen 30.000 neue Interessenten hinzu, heute bin ich einer von ihnen. Eine Einladung zu einem Klavierkonzert des chinesischen Virtuosen Lang Lang, der als erster Klassikkünstler der Welt ein Life-Konzert in der virtuellen Welt geben will, lockt mich an. Hintergrund ist die Vorstellung des ersten Beethoven-Albums des Pianisten. Der Musikkonzern Universal schuf dazu mit »Pangaea Island« eine eigene Plattform im »Second Life« und will mit Lang Lang erstmals auch ein Live Event veranstalten. Ich bin zu der Veranstaltung eingeladen, ohne zu wissen, womit ich die seltene Ehre verdient habe.

Gehe ich im realen Leben zu einem Konzert, ist die Abfolge ziemlich klar. Meistens bin ich rechtzeitig vor Ort, um mir das Theater und den Saal in Ruhe anzuschauen. Ich genieße es, ein paar Minuten vor Beginn einer Vorstellung im Auditorium zu sitzen und zu beobachten, wie die Musiker ihre Instrumente einstimmen und sich der Saal wispernd füllt. Aber wie funktioniert das im »Second Life«? Vorsichtshalber entscheide ich mich bereits am Nachmittag, die Plattform zu besuchen. Abends möchte ich schließlich rechtzeitig auf meinem Platz sein, der mir vom Veranstalter mit einem Zugangscode zugewiesen wurde, denn die Veranstaltung ist ausverkauft.

Brav befolge ich die Anmeldeprozedur und wähle meinen »Second Life«-Namen. Dazu nehme ich als Namen »Prinz«. Für den digitalen Maskenball muss ich noch einen Zusatznamen wählen, den mir das System vorgibt. Ich entscheide mich für »Swindlehurst«, es hätte auch ein Zusatz sein können, der mich einem anderen Kulturraum zuordnet. Im Angebot sind die Nachnamen Biedermann, Decosta, Flanagan, Helgerud, Huldschinsky, Yoshikawa, Vuckovic und viele andere. Außerdem entscheide ich mich für eine äußere Erscheinungsform, den Avatar. Ich trete als Cybergoth, als Internet-Grufti mit wirren roten Haaren, in mein neues Leben ein. Nach dem Download der Software und der Bestätigung meines Passworts kann ich meine ersten Schritte versuchen.

Prinz Swindlehurst loggt sich ein. Der Rechner fragt, ob ich denn tatsächlich nur die kostenlose »Basic Membership« will oder mehr erleben möchte. Weder bin ich bereit, ein monatliches Abonnement für meine Stippvisite auf der Plattform abzuschließen, noch will ich mein sauer verdientes Taschengeld in Linden-Dollar umtauschen. Das ist die nach dem neuen Weltherrscher benannte Währung, mit der sich Land und Besitz kaufen lässt. Als Gast der Firma Universal erwarte ich vielmehr, einen Hinweis zu finden, wie ich zur Musikinsel komme, auf die ich geladen bin.

Ich treffe in einem Hilfezentrum ein, das mir zeigen will, wie ich kommuniziere, mich kleide und bewege. Überall torkeln mehr oder weniger unbeholfen andere Avatare herum, die sich voreinander aufbauen und Kontakt aufnehmen. In Spanisch, Französisch, Italienisch, Englisch und Deutsch sprechen mich verschiedene Figuren an, hinter denen, und das ist das eigentlich Verrückte daran, jeweils tatsächliche Individuen stecken. »Hi, what´s up?«, »Hola, hablas espanol?«, alle wollen nur das Eine: sich möglichst schnell zurecht finden und irgend etwas erleben. Ich spreche mit diesem und jedem, meist geht es schnell auseinander, jeder irrt umher auf der Suche nach Erkenntnis. Eigentlich rufen alle laut nach Hilfe. Darum heißt diese Ebene wohl auch »Help Island«.

Screenshot

Screenshot: Wilhelm Ruprecht Frieling

Bald komme ich zur Kleiderkammer und lerne, wie ich mein Outfit ändern kann. Andere Avatare treten als Muskelmänner oder Püppchen mit struppigen Haaren auf. Passend zu meinem Pseudonym wähle ich für Prinz Swindlehurst ein prächtiges Prince-Charming-Gewand mit Dreiviertelhosen, Schnallenschuhen, Pagenfrisur und Krone. Das scheint Eindruck auf die anderen zu machen, die teilweise noch in grauen Unterkleidern umher schlendern. »You´re looking great«, meint die platinblonde Schönheit (oder ist sie in Wirklichkeit ein Er?) und lädt mich auf ihr Lotterbett: »You wanna make sex with me?«.

Alle anderen Leute, die ich treffe, flehen nur um Hilfe. Das ist für mich beruhigend, ich bin wohl nicht der einzige Depp vor Ort. Immerhin lerne ich das virtuelle Autofahren, bald kann ich auch fliegen und mich damit schneller von Ort zu Ort bewegen. »Beam me up, Scotty«, rufe ich begeistert und hoffe, auf diese Weise zur Musikinsel zu gelangen, denn die Zeit drängt. Ohne dass ich es bemerkt hätte, irre ich bereits vier Stunden in meinem neuen Leben umher und habe immer noch keinen Hinweis auf Pangaea Island gefunden. So wird es auch bleiben. Weder mit Hilfe von Karten noch Suchgeräten finde ich den Zugang zum Veranstaltungsort.

Nur gut, dass Lang Langs Auftritt auf Life 4-U, dem ersten TV-Sender in Second Life, übertragen wird. Auf deren Homepage kann ich deshalb das große Ereignis verfolgen. Ein Avatar, der wohl dem chinesischen Wunderkind ähneln soll, setzt sich an einen Flügel und zuckt darauf herum. Einige Beethoven-Stücke von seiner neuen CD werden dazu eingespielt. Windgeräusche werden unterlegt. Das soll die Präsentation vermutlich wirklichkeitsnäher machen. Da hatte ich wesentlich mehr erwartet. Aber was? – Das weiß ich selber nicht.

Die Kamera schwenkt über das offene Gelände, über das wohl ein böiger Wind weht. Dann wird das Publikum gezeigt. Es sind etwa dreißig Leutchen anwesend, die vereinzelt in dem Rund des Amphitheaters sitzen. Einige tragen festliche Abendroben, zwei Damen halten sogar ein Glas Sekt in der Hand. Sieht so ein ausverkauftes Haus aus? Da haben es offenbar noch ein paar hundert andere geladene Gäste nicht geschafft, die Eingangstür zur »Weltpremiere« finden. Oder streikte der Server? Nach einer knappen halben Stunde ist die Präsentation vorbei. Ich lege eine CD ohne Windgeräusche auf und freue mich auf das nächste Konzert im realen Leben.

P.S.: Ich gestehe unter dem Siegel der Verschwiegenheit: Später, als ich mich ein klein wenig besser orientieren konnte, hätte ich die blondierte Sexbombe aus streng wissenschaftlichen Interessen gern wieder getroffen. Das hätte mir Gelegenheit gegeben, die Praktiken des virtuellen Sex studieren zu können. Allerdings sah ich sie nie wieder. Second Life funktioniert in dieser Beziehung nämlich wie das richtige Leben: Was man sich wünscht, kommt immer nur dann, wenn es gerade nicht passt.