Zum Abschluss der vierten Klasse der Volksschule, von der ich mit rosigen zehn Jahren Ostern 1962 auf das städtische Gymnasium wechselte, tadelte mein Klassenlehrer mein gelegentliches Desinteresse an seinem Unterricht im Zeugnis mit einer eindeutigen Bemerkung. »Wilhelm Ruprecht schreibt heimlich unter der Bank Gedichte«, notierte der Schulmeister in meinen Leistungsnachweis. Das heimliche Verseschmieden hatte mir der Herr Oberlehrer trotz massiven Rohrstockeinsatzes nicht auszutreiben vermocht. Dafür hatte er etwas bemerkt, das Folgen haben sollte: ich träumte und phantasierte lieber als zu lernen, und ich verdichtete im wahrsten Sinne des Wortes meine Träume.
Meine musisch aufgeschlossenen Eltern reagierten stolz auf ihren Erstgeborenen, wenn ihnen auch aktive Teilnahme und intensiveres Interesse am Unterrichtsgeschehen lieber gewesen wäre. Aber da meine Noten tadellos waren, ließen sie mich gewähren. Sie wünschten sich einen Sohn, der etwas Besonderes war.
Im behaglichsten Winkel des betagten Hauses, hoch oben im Dachstuhl, hatte ich mein Nest gebaut. Hier fühlte ich mich geborgen, sicher und heimisch. Dies war der Ort, an dem ich ein selbst bestimmtes Leben führen konnte: in einem Kokon sanfter Träume, in einem Schneckenhaus ungebundener Phantasie. Im Refugium unterm Dachjuchhe schrieb ich meine Gedanken in Oktavhefte und träumte mir aus den Werken von Erich Kästner, Karl May, Jules Verne und Astrid Lindgren ein eigenes uneinnehmbares Königreich zusammen.
»Ich habe niemals Höhlen gegraben und Vogelnester gesucht, niemals botanisiert und mit Steinen nach den Vögeln geworfen«, schildert Jean-Paul Sartre in seiner mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Autobiographie »Die Wörter« seine Kindheit. »Aber die Bücher waren meine Vögel und meine Nester, meine Haustiere, mein Stall und mein Gelände; die Bücherei war die Welt im Spiegel; sie hatte deren unendliche Dichte, Vielfalt, Unvorhersehbarkeit. ... Die Wörter sind der Humusboden meines Gedächtnisses.«
Genau so erlebte ich meine ersten Gehversuche in den Gärten der Literatur, und aus dieser Perspektive betrachtet schenkte mir das Schicksal eine behütete Kindheit in der Wunderwelt der Bücher. Wie viel ungünstigere Bedingungen erlebten einige meiner Klassenkameraden, in deren Familien ein abgekämpfter Vater zum Feierabend sein flüssiges Brot aus dem Kühlschrank fingerte und wortlos aus der Glotze Bilderbrei löffelte. Er verschenkte die Chance, das kreative Potential seiner Kinder zielgerichtet zu fördern und zu fordern. Verhielt sich die Mutter als wichtigste Begleiterin des Alltags der Kinder ähnlich, konnte der Nachwuchs nur mühsam und auf Umwegen über den Konsum von Fernsehprogrammen und die Lektüre von Versandhauskatalogen hinauswachsen.
Für mich galt, was Astrid Lindgren schreibt: »Das grenzenloseste aller Abenteuer der Kindheit, das war das Leseabenteuer«, erinnert die Klassikerin des Kinderbuches. »Für mich begann es, als ich zum ersten Mal ein eigenes Buch bekam und mich da hineinschnupperte. In diesem Augenblick erwachte mein Lesehunger, und ein besseres Geschenk hat das Leben mir nicht beschert.«
Ich war süchtig nach Lesestoff. An Büchern fehlte es mir glücklicherweise nie, ich konnte frei wählen und ging in der örtlichen Buchhandlung ein und aus, um dank elterlichem Kredit neuen Lesestoff auszuwählen. Beim Lesen vergaß ich die Welt und schließlich mich selbst. Im Lesen ging ich selbstvergessen auf und lernte die Faszination der Buchstaben kennen. Das Versinken in Literatur bildete meine zentrale Freizeitbeschäftigung, die mir Langeweile als Fremdwort erscheinen ließ und mir andererseits die Angst nahm, mich in der realen Welt behaupten und auseinander setzen zu müssen.
Lesen ist und bleibt das sicherste Gegengift gegen Langeweile und Angst. Schon als Kind bereitete mir Lesen ungeteiltes Vergnügen, ich konnte mich dabei, was mir sonst schwer fiel, mühelos konzentrieren und war dabei bald völlig in meinem Tun absorbiert. Alles Beschwerliche um mich herum zerfiel beim Lesen zu Staub. Der Psychologe Victor Nell nennt das sich Verlieren in einem Buch »ludic reading«, was so viel bedeutet wie Lust-Lesen oder schlicht Schmökern. Ähnlich dem Träumen kann Lesen einen veränderten Bewusstseinszustand herbeiführen, bei dem der Körper entspannt und – anders als beim Fernsehen – die Phantasie motiviert, eigene, neue Bilderwelten zu erschaffen.
Später erlebte ich den Prozess der Auflösung und das In-den-Stoff-Fließen auch beim Schreiben. Das Verfassen von Texten ist ein äußerst kreativer Vorgang, in dem völliges Aufgehen möglich ist. Kurt Martin Hahn, Begründer der Erlebnispädagogik und von den Nazis verfolgter Gründer des Internats Schloss Salem, nannte diese Erscheinung »schöpferische Leidenschaft«. Ein amerikanischer Psychologe mit dem für mich nahezu unaussprechlichen ungarischen Namen Mihaly Csikszentmihalyi präzisierte das lustbetonte Gefühl des völligen Aufgehens in einer kreativen Tätigkeit als »flow«. Auf dem Feld des Schreibens bedeutet das: Schafft es der Autor, derartig faszinierend zu formulieren, dass der Leser in Trance fällt, Außenreize ignoriert und bei Unterbrechung der Lektüre wie aus einem Traum erwacht, dann ist ihm vielleicht ein Kunstwerk gelungen, das Glück und Entspannung schenkt.
Bücher waren die Schlösser meiner Kindheit. Schon als Knirps verarbeitete ich in meiner Traumfabrik Geschichten, die mir später in verdichteter Form aus der Feder flossen. Worte, Bilder und Sequenzen wurden aufgenommen, zerlegt, wieder zusammengefügt und phantastisch erweitert. Zigtausende von Bildern speicherte und verarbeitete ich in jenen fernen Tagen bewusst und unbewusst, ohne darüber nachzudenken, was später einmal daraus werden sollte. Meinem Tagebuch vertraute ich folgende Zeilen an: »Ich sitze am Fenster und schaue über die nahe gelegenen Bahngleise hinweg in eine mir unbekannte Ferne. Sanft streicht ein Kranich über die Felder: ich fliege mit ihm davon.«
Mein Klassenlehrer hatte mich mit seinem mahnenden Verweis im Zeugnis, ich schriebe heimlich unter der Schulbank Gedichte, voll durchschaut. Ich vagabundierte lieber durch meine Phantasiewelt, als mich mit Hausarbeiten zu beschäftigen, und ich pflegte das bewusste Träumen lebenslang mit großer Hingabe. Ein jeder von uns steht irgendwann am Kreuzweg des Lebens und entscheidet, in welche Richtung er geht. Mich zog es ins Land Phantasia, und diesem Weg bin ich konsequent und freudig gefolgt bis in Guido Grigats Königreich der Kolumnisten, das gerade seinen zehnjährigen Geburtstag begeht.
Diese Kolumne ist ein editierter Auszug aus Wilhelm Ruprecht Frielings Autobiografie »Der Bücherprinz«.
... von kolumnen.de drehen sich die Kolumnen in dieser losen Reihe um den zehnten Geburtstag: Ob der eigene zehnte Geburtstag, ein historischer Moment, eine erste Liebe ...