10.07.07

Wilhelm Ruprecht Frieling

Auf den Spuren der »Digitalen Boheme«

Simon Sims ist Anfang dreißig. Der blasse Junge wirkt bleich und abwesend. Er stapft durch den Berliner Altbaubezirk. In seinen Ohren stecken weiße Stöpsel, sein iPod ist bis zum Anschlag aufgedreht. Er schaut zu Boden, kennt jede Kreuzung, jeden Bordstein, jede Stolperfalle und passt sich instinktiv dem Schwarm der Passanten an, der Richtung Zentrum strömt. Der in sich gekehrte, mehlgraue Mann trägt einen tiefschwarzen Rucksack auf dem schmalen Rücken. Seine bunte Strickmütze ist tief ins Gesicht gezogen. Sein bartloses Gesicht bietet dem Gegenwind kaum Widerstand. Simon Sims ist auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz. Er ist ein »digitaler Bohemien«.

Der junge Mann betritt das Selbstbedienungsrestaurant »Sankt Oberholz« am Rosenthaler Platz und steuert den Tresen an. Er bestellt einen Latte Macchiato, zahlt mit Münzen, die er aus tiefen Hosentaschen kramt und steigt mit dem duftenden Kaffee in der Hand eine gewundene Holztreppe hinauf ins Obergeschoss. In dem halbdunklen Raum ist nahezu jeder Platz besetzt. Simon nimmt eine freie Nische in Beschlag, stellt seine Tasse ab, streift die Mütze vom Kopf. Seinem Rucksack entnimmt er ein schneeweißes Laptop, das er vor sich aufklappt. Der fahle Lichtschein des Bildschirms beleuchtet sein Gesicht. Seine Augen beginnen zu glimmen. Willkommen im Leben, Simon Sims!

Foto: Im Sankt Oberholz

Im »Sankt Oberholz«

Foto: Wilhelm Ruprecht Frieling

Der Neuankömmling wirft einen kurzen Blick zu den anderen Gästen. Es ist eine Bruderschaft der konzentriert Schweigenden, die am aufgeschäumten Milchkaffee nippt. Jeder sitzt vor einem tragbaren Computer und starrt hinein. Geheimnisvoll schimmern graue Gesichter im Mondlicht der Monitore. Schnell und geübt quälen Finger Tastaturen. Ihr Zweifingerstakkato stellt den Geschwindigkeitsrekord professioneller Schreibkräfte in den Schatten. Einige haben dicke Kopfhörer mit Mikrophonen übergestülpt, in die sie sprechen. Das Szenario wird unterlegt von einem Soundteppich, der aus schwarzen Boxen wummert. Simon kennt keinen der Anwesenden persönlich, obwohl er nahezu jeden Morgen in dieselben Gesichter blickt. Gut möglich, dass er mit dem einen oder anderen der anderen Gäste online bekannt ist und sich austauscht, er weiß es nicht. Klarnamen und echte Fotos statt Nicknames und Avataren sind im virtuellen Leben in der Minderheit.

Sims Computer knüpft automatisch Kontakt mit dem drahtlosen Netz, das »Sankt Oberholz« seinen Gästen gratis zur Verfügung stellt. Gleich ist er online und verschmilzt mit der Gemeinschaft anderer Netznutzer. Im Web ist er zuhause, die virtuelle Welt ist sein Daheim. Hier gründet er Kontakte, hier versucht er, seine Existenzberechtigung und sein Auskommen zu finden. Sein gesamtes Leben findet inzwischen im Internet statt, und als idealen Platz zum kostenlosen Surfen hat er die Gaststätte in Berlins neuer Mitte entdeckt. Die ehemalige Berliner Bierschwemme der legendären Gastronomiebrüder Aschinger gilt als Geheimtipp unter denjenigen, die sich nicht nachsagen lassen wollen, nur zum Spaß und Zeitvertreib ununterbrochen online zu sein und vierzehn bis sechzehn Stunden täglich wie eine Fliege im Netz zu kleben. Simon und die meisten anderen Anwesenden nennen ihr Leben »Arbeit« und versuchen, dies entsprechend ernsthaft zur Schau zu stellen. Vielleicht benötigen sie auch die Strenge des öffentlichen Raumes, um sich diszipliniert einer Tätigkeit zu widmen, die daheim schnell ins Nichts ausufert.

Das Internet und die damit zusammenhängenden neuen Technologien bieten sich ihnen als Landeplatz für den alten Traum vom selbst bestimmten Leben. Auf diesem Gelände scheint es möglich, eigene Projekte, Labels und Betätigungsfelder zu schaffen. Das Netz ist dabei mehr als Werkzeug und Spielwiese, es wird zur Einkommens- und Lebensader. Simon Sims fühlt sich deshalb als etwas Besonderes, als Mitglied der »digitalen Boheme«. Darunter versteht sich ein wachsender Kreis computerbegeisterter Internetjunkies, die via Web ein Publikum suchen und sich damit recht und schlecht ernähren. Zum zeitgemäßen Lebensstil der neuen Kaste gehört der Auftritt in In-Cafés, die freien Netzzugang gewähren. Das »Sankt Oberholz« gilt als heimliches Hauptquartier der Bewegung. Dort wird ein »WLAN-Hotspot« geboten.

Jahrzehnte zuvor galt es als wagemutige Entscheidung, den Sprung ins kalte Wasser der Selbständigkeit zu wagen. Inzwischen ist es oft die letzte Chance, zu einem Einkommen unabhängig vom Geldbeutel der Eltern und staatlicher Subvention zu kommen. Damals standen qualifizierten Arbeitskräften besonders im Medienbereich Tür und Tor offen, sie wurden umworben und geködert. Heute träumen Millionen Menschen von Arbeit, die ihnen ein regelmäßiges Auskommen sichert. Insofern entspringt der aktuelle Trend, »dankend« auf einen Arbeitsvertrag zu verzichten und sich selbständig zu machen, wirtschaftlichen Zwängen und gilt als letzter Anker, um überhaupt im Dschungel der Großstadt zu überleben. Der Schritt vom Bezieher von Stütze und Sozialhilfe zu digitalen Bohemiens ist damit weder allzu groß noch besonders revolutionär, er geschieht aufgrund sozialer Zwänge.

Es ist die positive Umkehrung, auf den übersättigten Arbeitsmarkt und ein unsicheres Angestellten-Dasein mit der Theorie der digitalen Boheme zu reagieren und diese geschickt zu ideologisieren. Danach geht es um ein Leben in Freiheit, bei dem nicht das Geldverdienen, sondern ein selbst bestimmter Arbeitsstil ausschlaggebend sein soll. Vieles erinnert an die »analogen« Bohemiens, die im vergangenen Jahrhundert mit Notizbuch und Zeichenstift die Cafés der Metropolen als Arbeitsort nutzten. Die digitale Nachfolgerschaft behauptet sich als mutig-alternative, neue, kreative Form der Arbeitswelt, die selbstbewusst und ideenreich darauf reagiert, dass es dramatisch weniger feste Stellen gibt. Dazu geben sich die Bohemiens gern als eine Art Cyberguerilla, die in die Unternehmen einsickert und alles »revolutioniert«. Tatsächlich sind sie weniger als eine lockere Seilschaft von Freunden, die sich mehr oder minder lukrative Aufträge zuschanzen. Es sind Leute, die den Sprung von der Ausbeutung in die Selbstausbeutung propagieren und den Marsch durch die Institutionen antreten, um an die Honigtöpfe zu kommen.

Simon Sims wendet sich derweil seinem Posteingang zu. Er beantwortet Mails, liest Leserbriefe zu seinen jüngsten Einträgen in seinen Blogs und kommentiert diese routiniert. Dann holt er sich die Nachrichten auf den Bildschirm und verschafft sich einen Überblick über ihn interessierende Themen. Schließlich liest er die Beiträge der so genannten Alpha-Blogger. Das sind jene besonders gern und entsprechend häufig besuchten Blog-Leithammel, die in Bloglandien am theoretischen Überbau zimmern und bevorzugt zitiert werden.

Verdient hat der Besucher des »Oberholz«, der sich inzwischen den nächsten Milchkaffee organisiert hat, mit dieser stundenlangen Beschäftigung noch keinen Cent. Oder doch? – Je mehr Briefe, Nachrichten und Mitteilungen ihn erreichen, desto zufriedener ist er, denn er fühlt sich gebraucht. Je mehr Besucher sich auf den von ihm betriebenen Websites und Blogs tummeln, desto häufiger werden auch die Werbebanner angeklickt, die er dort platziert hat. Im Erfolgsfall bedeutet das bescheidene Rückvergütungen vom Suchmaschinengiganten Google, dem Großmufti der Bohemiens. Das reicht zwar kaum für den täglichen Kaffee, aber es kann sich schlagartig ändern, denn das Netz steckt voll wahrer Wunder und phantastischer Überraschungen. Es ist ein Tummelplatz der Träume.

Simon ist weit davon entfernt, einen Großkonzern als Auftraggeber vorweisen zu können, dann würde er statt im »Sankt Oberholz« in einem minimalistisch eingerichteten Jungunternehmer-Büro mit Blick auf die Spree logieren. Aber er verdient mal hier, mal dort ein paar Kröten, weil er sich im Netz auskennt und damit der Mehrheit der Bevölkerung einen Quantensprung voraus ist. Vielleicht beobachtet bereits ein Autohersteller oder ein Medienkonzern seine Aktivitäten und klopft morgen an seine virtuelle Tür, weil sie einen unverbrauchten Werbetexter suchen? Doch um so weit zu kommen, muss er erst einmal eine Menge Vorarbeit leisten sowie Testaufträge erledigen, und derartiges erfolgt im digitalen Zeitalter gern gratis.

Statt wie Millionen angestellte Bürohengste um neun Uhr sitzt Simon deshalb manchmal schon um acht in der Frühe an seinem »Schreibtisch« im »Sankt Oberholz«. Er kehrt auch zum späten Nachmittag nicht heim zu Frau und Kind wie es Angestellte tun. Er lebt allein und kann sich bislang nicht einmal entscheiden, ob er hetero oder schwul sein will. Außerdem könnte der entscheidende Anruf oder die entscheidende Mail kommen, und wenn er dann nicht sofort reagiert … er malt es sich in Schreckensfarben aus. Um Mitternacht bewacht er immer noch mit inzwischen viereckigen Augen den Bildschirm und verlässt seinen digitalen Stützpunkt nur, weil dieser zum Morgengrauen schließt und Reinigungskräfte die nachtaktiven Internetartisten auskehren.

Keiner der anderen Digital-Selbständigen kümmert sich darum, ob sich Sims Tische unter der Last der Aufträge biegen. Keinen der Kollegen Miniunternehmer interessiert, ob seine Versuche, sich und seine Leistung immer wieder anzupreisen, letztlich von Verkaufserfolg gekrönt werden. Gelebt wird zwischen Milchkaffee und Online-Zugang. Es ist eine Existenz ohne Garantien und doppelten Boden. Aber es verspricht zugleich auch mancherlei Möglichkeiten!

Viele der selbst ernannten Freiberufler bleiben dabei allerdings bereits in der Anlaufphase auf der Strecke, denn die Persönlichkeit des erfolgreichen Selbständigen ist unternehmerisch geprägt, und verlangt Initiativkraft. Von nichts kommt nichts. Wer angestellt denkt und auf andere hofft, der geht schnell unter. Darum ist Simon mitunter auch um halb vier Uhr morgens noch an seinem »Arbeitsplatz« zu finden, an dem er sich von Kartoffelchips, Tagessuppe und Kaffee ernährt, um keine Zeit zu verlieren. Sims Grenzen zwischen Leben und Arbeit verschwimmen. Inzwischen ist alles »Arbeit«, und jede noch so flüchtige Bekanntschaft wird zum Hoffnungsträger für den digitalen Unternehmer, seine Auftragslage zu verbessern. Während dessen schnarcht das Millionenheer der Werktätigen in seiner Matratzengruft und wartet auf den Wecker, der es gnadenlos ins Arbeitsleben befiehlt.