12.08.08

Wilhelm Ruprecht Frieling

Gipfelstürmer

Tellergroße Kuhfladen dampfen in der Sonne. Sorgsam versuche ich, möglichst nicht voll hinein zu treten. Ihre Urheber treffe ich in der nächsten Kehre: Blöde glotzen mich zwei Kühe an. Sie versperren den Aufstieg über den schmalen Trampelpfad, dem ich bergauf folge. Tief unter mir funkelt das Tal. Seit drei Stunden ächze, stöhne und keuche ich bereits bergauf.

Dreihundert Höhenmeter bewältigt der Wanderer pro Stunde, verrieten mir geschäftstüchtige Eingeborene in Krachleder. Sie erboten sich als Bergführer. Doch wozu brauche ich einen Begleiter? Der Weg schlängelt sich deutlich sichtbar hinauf, und wenn es die Rotbunten schaffen, dann kann ich es auch. Die beiden Kühe sind gutmütig, vielleicht sind es reinkarnierte Bergsteiger, die in eine Felsspalte rutschten und dort ihr Leben aushauchten. Die eine der beiden macht das Arschloch auf und erweist mir Referenz. Unter geselligem Zureden und Tätscheln schlängele ich mich am Rindfleisch vorbei. Im Hintergrund rauscht ein wilder Bach.

Eine gute Stunde später kehre ich in einer Almhütte ein. Mit einem Teller Kaspressknödelsuppe und einem Krug frischer Buttermilch werden die Lebensgeister wieder erweckt. Der Wirt deutet auf die granitgraue Felswand, die vor mir liegt: »Ein Gewitter zieht auf«. Kritisch mustert er meine Ausrüstung: immerhin trage ich feste Wanderschuhe, das Geschenk einer Verflossenen, eine Trekkinghose aus dem Ausverkauf und einen Anorak, der laut Etikett wasserfest ist. Ich bedauere lediglich, die Teleskopstöcke, die ich bei einem Discounter erwarb, daheim vergessen zu haben. Die könnte ich bei dieser Expedition nämlich sehr gut einsetzen. – Gewitter? – Auffi, auffi, der Berg ruft!

Dralle Sennerinnen, die mit dem Melken der Kühe beschäftigt sind, winken und juchzen ein Jodel-Lied. Ihr »Hodaro«, »Iohodraeho«, »Holadaittijo« verfolgt mich noch lange. Begleitend läuten Kuhglocken. Ja, auf der Alm da is koa Sünd, weil die Wanderer so müde sind ... Mein einstmals weißes Taschentuch wringe ich zum wiederholten Male aus. Schweiß strömt mir in Bächen in Hemd, Hose und Schuhe. Unerbittlich brät die Sonne, während von Osten dunkle Wolken heran ziehen. Von Kühen und Sennerinnen ist bald kein Ton mehr zu vernehmen. Stille umfängt mich. Die Baumgrenze ist erreicht. Mittlerweile wird es richtig steinig.

Ich schnaufe wie eine verrostete Dampfmaschine. Zum Klettern und Steigen benutze ich inzwischen auch die Hände. Huch, hier geht es steil bergab! Abgründe öffnen sich. Ich taste mich vorbei. Plötzlich liegt ein Eisfeld vor mir. Ist das gar ein Gletscher? Davon stand doch überhaupt nichts im Prospekt der Touristeninformation! Vorsichtig robbe ich über das Eis. Wenn ich jetzt rutsche, ist kein Halten mehr, und ich schlage in Einzelteilen unten auf.

Fotos

Gipfelsturm

Fotos von Wilhelm Ruprecht Frieling

An einer Wegscheide hockt ein Alpenmurmeltier vor seinem Bau und kaut genüsslich Mutterwurz. Abgekämpft sinke ich auf einen Findling und stelle mich vor. Als Interviewpartner verweigert sich der kräftige Nager. Ihm scheint es vielmehr zu gefallen, dass die Temperaturen rapide sinken. Mich hingegen friert. Im Gepäck schleppe ich ein Buch, das mir ein Freund geschenkt hat. Es trägt den bezeichnenden Titel »Fool on the Hill«. Als Trottel auf dem Berg komme ich mir inzwischen selbst vor, weil ich dachte, ich könnte nach wenigen Stündchen gemütlich einkehren, im Alpenglühen das Buch genießen und dann gemütlich zurück ins Tal spazieren.

Doch daraus wird nichts. Die Sonne verbirgt sich endgültig hinter undurchdringlich schweren Wolken. Fette Tropfen platschen auf meine Jacke. Ein Pfad ist längst nicht mehr auszumachen. Ab und zu weisen in den Boden gerammte rot-weiße Markierungen die Richtung. Sturm kommt auf. Ich ziehe meine Kapuze zu. Futsch, wird sie mir von einer Bö vom Kopf gefegt. In der Ferne zucken Blitze. Ich zurre die Kopfbedeckung fest. Es wäre sinnvoll, einen Stock dabei zu haben, um die Blitze abzuhalten, hatte mir der Bergfex im Tal geraten. Dumm gelaufen, inzwischen bin ich selbst die höchste Erhebung am Berg. Möge Lichtgott Loge sich meiner erbarmen!

Vor mir steht eine Wasserwand. Gipfelkreuz, ich liebe Dich! Es ist zum Greifen nah, und doch unendlich weit entfernt. Auf allen Vieren krieche und krabbele ich den steinigen Hang hinauf. Völlig erschöpft komme ich an und sinke zu Boden. Ich sehe aus wie ein Teller bunter Knete ohne Farbe. Zitternd vor Erschöpfung öffne ich einen Blechkasten, der an dem Holzkreuz angebracht ist. Regenfest verwahrt ruht dort das Gipfelbuch. Ich blättere: erstaunlich viele Kinder waren bereits vor mir hier oben.

Mit einem Stempel kann ich beweisen, das Ziel meiner Träume erreicht zu haben: Der erste Zweitausender meines Lebens ist bezwungen! Vier Stunden Abstieg liegen vor mir. Ich bin bereits bis auf die Haut nass. Warum gibt es denn hier keine Taxen? – Wie auch immer: Im nächsten Jahr überquere ich den Watzmann im Handstand!

Mit einem Mal ruckt es merklich an meiner Jacke. Will das Murmeltier Kontakt? Noch immer nach Luft schnappend drehe ich mich um und schaue hinab: Ein Dreikäsehoch steht neben mir und rüttelt mein Gewand. Hinter ihm windet sich eine unübersehbare Prozession von Kindern, die ungeduldig warten. Sie werden begleitet von Muttis mit umgehängten Kameras, die drohend ihre Fäuste in die stämmigen Hüften stemmen. »Onkel, ich will mich auch mal fotografieren lassen«, kräht der Knirps. Unwillig knurre ich. Mistfink! Es ist doch so schön hier oben!

Entrüstet drehe ich dem Minihügel mit Gipfelkreuz im Märchenwald den Rücken und stapfe davon. Da behaupte noch einer, über allen Wipfeln sei Ruh' ...