14.04.09

Wilhelm Ruprecht Frieling

Lebendig begraben

Karfreitag, der Tag des großen christlichen Abschiednehmens, war für mich der richtige Zeitpunkt für eine Stippvisite im Jenseits. Ich sagte »Tschüss« zu dieser Welt und ließ mich lebendig begraben. Nein, ich kletterte in keine Eichenkiste, ließ mich ein Stockwerk tiefer legen und betätige später einen Klingelzug, um prachtvoll auferstehen zu können. Ich schichtete auch kein Feuerholz auf ein Floss, steckte den Nachen in Brand und ließ mich auf dem Wannsee gen untergehende Sonne treiben, um auf diesem spektakulären Weg die Ewigen Jagdgründe der Wikinger zu erreichen. Ich machte es auf meine Weise. Zeitgemäß. Modern. Vollkommen virtuell. 2.0 mäßig eben.

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Screenshot: Wilhelm Ruprecht Frieling

Durch Tod und Auferstehung wird uns Sterblichen erst Sündenvergebung und damit Errettung aus dem Tod und ewiges Leben ermöglicht. Dies ist dank des Internets inzwischen jedermann jederzeit möglich. Wie das funzt? – Ganz einfach: Im Internet bieten spezielle Seiten an, sich schon mal vorab ein ruhiges Plätzchen für das Leben danach zu sichern. In der Kunstwelt »Second Life« beispielsweise werden Friedhöfe in jeder Farbe und Form präsentiert.

»Second Afterlife Cemetry« heißen jene Ruhestätten für das »zweite Leben«, für das Leben danach. Dort finden sich die Friedhöfe von morgen: Grabplatten mit interaktiven Bildschirmen, auf denen der Verblichene ein paar Worte spricht, singt, scherzt oder lacht. Videowände, auf denen die teuren Toten wieder lebendig werden und für einen kurzen Moment auferstehen. Monitore, auf denen ein Leben im Zeitraffer abläuft und die wichtigsten Stationen der Verstorbenen im Zeitraffer rekapituliert werden. In einer der Katakomben schlich ein Sensenmann im schwarzen Umhang um mich herum, ohne mich anzurühren. Gleich nebenan nutzte ich die Möglichkeit, in einem gepolsterten Sarg Probe zu liegen und den Deckel für einen kurzen Moment zu schließen. Es war still, gespenstisch, kalt, und ich war mutterseelenallein.

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Screenshot: Wilhelm Ruprecht Frieling

Neben dieser Geisterbahn im »Second Life« gibt es im Web auch diverse virtuelle Friedhöfe. »My Death Space« heißt einer von ihnen, dem Interessenten sogar auf Twitter folgen können. Von den zu Lebzeiten betriebenen Accounts lässt sich dort im Falle des Dahinsiechens alles bequem auf diese Todesfarm umleiten. Damit haben Nachkommen, Verwandte und Freunde jederzeit die Möglichkeit, ihre Heimgegangenen zu besuchen und ihrer zu gedenken.

Ein anderer virtueller Großfriedhof namens »tributes.com« wird von der »Washington Post« betrieben und macht die allgemein zugänglichen Todesdaten der US-Sozialversicherung zugänglich. Soll der teure Verstorbene dort unfangreicher als nur mit nackten Lebensdaten gewürdigt werden, müssen seine Hinterbliebenen dafür blechen. Weitere Einkünfte verspricht man sich von den Besuchern der Site, die mal nachsehen wollen, welche ihrer Bekannten in letzter Zeit das Zeitliche gesegnet haben. Über ein Werbebanner kommt man schon jetzt zu einem Online-Rechner, der die eigene verbleibende Lebenszeit bestimmen soll.

Mir gefallen diese virtuellen Friedhöfe. Sie funktionieren wie das von diversen Religionen versprochene Paradies. Es gibt lediglich einen feinen Unterschied: der digitale Garten Eden ist bereits zu Lebzeiten geöffnet, und jeder, der dort eines Tages gebettet wird, kann sich seinen Endlagerplatz selbst bestimmt auszusuchen, schmücken und gestalten.

Gleich neben den virtuellen Grabstätten werben Elektronikstores, Lebensmittelmärkte, Casinos, Reiseveranstalter und Vergnügungen aller Art. Meint jemand, das sei pietätlos? Ganz im Gegenteil, es spiegelt das reale Leben wider! Schaue ich aus dem Fenster, dann sehe ich Supermärkte, Autohäuser und Imbissstuben, die mich mit ihrer penetranten Werbung umzingeln. Warum sollte es auf den Friedhöfen der Zukunft anders sein?

In früheren Jahrhunderten brauste auch auf den Friedhöfen das pralle Leben. Gaukler, Clowns und Prostituierte hatten im Mittelalter ihre Wirkungsstätte zwischen den Grabsteinen und halfen aktiv, Trauer zu bewältigen. In unserer Zeit ist der Tod zu einem unheimlichen Monster im Hintergrund geworden, das alle fürchten, keiner aber wahrhaben will. Entsprechend schwierig ist der Umgang mit dem Thema Tod: Keiner will gehen, fast alle wollen ewig leben, und das Web 2. macht es möglich und schlägt Brücken.

Dabei ist die virtuelle Welt von Morgen längst von der Realität eingeholt worden. Wer heute über einen Gottesacker wandelt und auf einem Grabstein eine eingemeißelte Webadresse findet, der kann mit seinem iPhone direkt zur virtuellen Endlagerstätte surfen und dem Verstorbenen einen Besuch abstatten. Dort erlebt er ihn dann noch einmal in Wort, Bild und Ton. In voller Blüte winkt er ihm vielleicht aus einem Youtube-Filmchen zu, erfreut ihn mit humorigen Versen und lässt ihn in seinen Texten und Veröffentlichungen blättern. Selbstverständlich ist der Link zum Online-Buchhändler weiter aktiv, seine Bücher, Schallplatten und CDs sind lieferbar und können auf Knopfdruck bestellt werden.

In den Niederlanden sind derartige Grabstätten längst Realität. Im Mai 2007 feierte der digitale Grabstein auf dem Friedhof in Rhenen Premiere. Seitdem kommt eine holländische Witwe regelmäßig an das Grab ihres dort ruhenden Ehemannes, um sich auf einem Flatscreen Bilder aus seinem Leben anzuschauen. »Digizerk« nennt der holländische Ingenieur Hendrik Rozema seine Erfindung, die Kombination aus digitalem Bildschirm und Grabstein (niederländisch: »Grafzerk«). Witterungsbeständige Digisteine mit Solarstrombetrieb werden inzwischen auch in deutschen Landen angeboten. Tischlermeister Carsten Graven bietet sie auf einer eigenen Homepage an. Wir müssen uns also wohl oder übel darauf einstellen, zumindest virtuell unsterblich zu werden. Von »letzter Ruhe« kann bald keine Rede mehr sein.

Internet-affinen Typen bietet sich der Wechsel zur virtuellen Grabstätte unbedingt an. Denn im digitalen Himmel ist Platz für alle, und ein Vergessen wird unmöglich. Es sei denn, die Serverfarmen gehen in Flammen auf oder ein Provider bricht zusammen. Das wäre dann wohl wirklich das Ende. Sicherheitshalber bleibe ich deshalb noch ein Weilchen lebendig und atme die frische Frühlingsluft.

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Screenshot: Wilhelm Ruprecht Frieling