17.11.06

Wilhelm Ruprecht Frieling

Ich blogge, also bin ich

Vor Jahren genügte es, eine gediegene Visitenkarte mit Hammerschlag aus der Brieftasche zu fingern und sich damit seinem Gesprächspartner vorzustellen, um als Persönlichkeit wahrgenommen zu werden. Heutzutage braucht es dazu erheblich mehr.

Der multimediale Zeitgenosse nennt eine gepflegte Homepage sein eigen, und er weist sich mit einem umfangreichen Eintrag im Onlinelexikon Wikipedia aus. Er bombardiert seinen Bekanntenkreis mit Newslettern und publiziert online. Vielleicht erleidet er bald seinen ersten Hörsturz oder einen Herzkasper durch virtuellen Stress. Doch er hat immerhin die erste Inkarnation der neuen Menschwerdung im Internet erreicht: er ist "drin" und damit rund um die Uhr online präsent.

Wer glaubt, damit sei alles in Butter, hat sich geschnitten. Nun will die zweite Stufe auf dem Weg der eigenen Gottwerdung im Netz der Netze erklommen werden.

»Web2.0« heißt der aktuellste Grad der Erleuchtung und Selbstdarstellung. Durch verbesserte Software und Breitbandanschlüsse treten anstelle von Textinformationen, die bislang nur konsumiert werden konnten, echte Kommunikation, Vernetzung und Multimedialität. Unmittelbare Kommunikation auf öffentlicher Bühne ist möglich. Web 2.0 gilt als neuer Paradiesgarten, der mit seiner interaktiven, sozialen Ausrichtung Millionen von Menschen auf der ganzen Welt anlockt. Vor allem die Kommunikationsbranche schwärmt von den Möglichkeiten, die das »neue Internet« bietet. Nun kann der bisherige Konsument aktiv mitgestalten und selbst zum Akteur werden,

Auf dieser »zweiten Stufe« der virtuellen Realität, die immer stärker die klassische Wirklichkeit ergänzt und streckenweise bereits ersetzt, existiert nur noch, wer bloggt. Das oder der Blog, Konrad Duden gestattet beide Artikel, ist die Kurzform des englischen Begriffs Weblog. Bezeichnet wird damit ein Internet-Notizbuch, die das sofortige und kostenlose Veröffentlichen ermöglicht. Über eine jedem zugängliche Kommentarfunktion und das »Verlinken«, das ist das Herstellen von Bezügen, auf andere Webseiten erfüllt sich die Fiktion von Vernetzung, Gemeinschaft und Tralala. Es ist eine Welt scheinbarer Gleichberechtigung, ein paradiesischer Kommunismus, in dem jeder nach seinen Bedürfnissen von einem scheinbar allwissenden und unfehlbaren Orakel bedient werden kann.

Der bislang verloren im Netz zappelnde, individuelle Power-User kann sich jetzt zum Mitglied einer »Community« empor schwingen. Als Angehöriger einer virtuellen Gemeinschaft scheinbar Gleichgesinnter tauscht er sich aus, gibt Hinweise auf interessante Fundstücke im Netz und teilt Filme, Musik, Fotos und Texte mit anderen. Er gehört zur ersten Generation, die ein völlig neues Medium aktiv und selbst bestimmt benutzen kann. In den Blogs steckt damit gesellschaftliche Kraft. Die Blog-Variante der weitgehend vom Nutzer bestimmten Netzzeitungen bestimmt in Ländern wie Südkorea bereits das politische Alltagsgeschehen aktiv mit. Derzeit ist selbst für weit voraus schauende Medientheoretiker unübersehbar, welche Kraft sich aus derartigen Kommunikations-Spielwiesen entwickeln wird.

Jedenfalls kann jeder ohne Ansehen von Alter, Geschlecht, Rasse, Schönheit, Hautfarbe, Körbchengröße, Doktortitel, Steuerklasse, Sexualverhalten, Religion und Kontostand mitreden. Die Manifestation der eigenen Wesenheit ist frei von einer Zugehörigkeit zu Schichten oder Klassen. Baron Bruno von Blaublut, Samantha Sondermüll und Paule Prekariat stehen gleichberechtigt auf einer Ebene und sind virtuell befreundet. Entscheidend ist nur die Zahl ihrer Page Impressions, das ist die Zahl der Seitenaufrufe, und die wiederum wird stärker von Einfallsreichtum, Phantasie und technischer Fertigkeit der jeweiligen Autoren bestimmt als von ihrem Bankguthaben. Dabei geht es keinesfalls um sprachliche oder intellektuelle Fähigkeiten. Es reicht vollkommen aus, den Massen nach dem Mund zu reden, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, sie zu beschimpfen oder zum Lachen zu bringen. Ablesbar ist die jeweilige Quote dann in der Hitparade der Blogger, den »Deutschen Blogcharts«.

Auf manchen bloglosen oder blogahnungslosen Ausstehenden wirkt diese Entwicklung derzeit noch, als treffe sich im Netz ein Haufen süchtiger Internetjunkies mit Leuten, die über zu viel Freizeit verfügen. Hausfrauen, Muttis, Professoren im Ruhestand, Arbeitslose mit Breitbandanschluss, einsame Herzen und professionelle Webgestalter spinnen sich nach dieser Auffassung im Netz der Netze zusammen und bilden eine neue, geheimnisvolle Sekte. Doch hinter den Nebeln wächst sehr viel mehr: Fünfundfünfzig Millionen Blogger gibt es inzwischen weltweit. Deutschland belegt mit knapp dreihunderttausend Nutzern einen der letzten Plätze in Europa. Und diese Zahl wird sich geschwind potenzieren.

Derzeit sind deutsche Blogger noch relativ unter sich. Eine gewisse Inzucht in ihren Gemeinschaften ist dabei unübersehbar. Innerhalb der Communities, die wie Pilze aus dem Boden sprießen und sich mitunter wie antiautoritäre Kindergärten gebärden, gibt es Strukturen. Listen von Freunden und Seitenempfehlungen, »Blogrolls« genannt, finden sich fast auf jedem Blog. Im Grunde sind derartige »Freundeslisten« lediglich eine »Buddylist«, also Verweise auf Blogs, die man selbst gern liest und ab und an kommentiert. Viele verwenden sie allerdings auch als Glaubensbekenntnis, manche gestalten sie als öffentliche Verlobungsanzeigen.

In nahezu jeder Community dominieren Aktivisten der ersten Stunde, die aufeinander Bezug nehmen und sich bisweilen sogar durch Tarnidentitäten ins Gespräch bringen. Es gibt Leitwölfe, die in Diskussionen den Ton angeben und darüber wachen, wer in die Liste der empfehlenswerten Mitglieder aufgenommen wird. Beim Blog http://www.webstories.cc, der massenhaft Geschichten und Gedichte veröffentlicht, schmeckt beispielsweise eine Oberlehrerin vor, die inzwischen von anderen Bloggern in Gedichtform besungen wird. In einem Anagramm heißt es: »R...eizvoll höre ich Dich flüstern / O...ft chaotisch, manchmal lüstern. / S...chreibst genial perfekten Text, / M...achst betrunken, irr, behext. /A...ckerst tief in Deiner Seele, / R...öchelst heiß aus trockner Kehle ... / I...ch kann nur EIN Fazit ziehn /N...ur wer lebt, liebt ROSMARIN!«

Um das Freundschaftsding anzukurbeln, werfen sich Blogger gegenseitig »Stöckchen« zu. Ein Stöckchen ist eine Sammlung von meist banalen Fragen, die in Form eines Kettenbriefes verbreitet wird. Der Blogger, der ein Stöckchen bekommen hat, beantwortet die Fragen im eigenen Blog und »wirft« es dann weiter an den nächsten. Mit einem elektronischen Suchbaum, dem Trackback, kann später nachvollzogen werden, wer das Stöckchen geworfen hat und wo es wieder aufgefangen wurde. Schwierig bei diesem Zeitvertreib ist es, neue Blogger zu finden, die mitspielen, denn einige reagieren deutlich genervt und fühlen sich wie sabbernde Hunde, die brav Stöckchen apportieren. Auf einigen Blog-Briefkästen kleben daher inzwischen Schilder wie »Keine Werbung - Keine Stöckchen!«.

Blogger geben gern wie in einer Peepshow Einblick in ihr Wohnzimmer und kommen damit gemessen an den »Einschaltquoten« ausgezeichnet an. Das entspricht dem Trend, sein Privatleben komplett ins Internet zu verlegen und vollends in der virtuellen Welt aufzugehen. Ohne spürbare Grenze treten sie durch ein magisches Tor in die virtuelle Welt ein, in der sie sich häuslich eingerichtet haben und ein scheinbar selbst bestimmtes Leben führen. Sie melden sich sogar gegenüber der Welt ab, wenn sie mal kurz aufs Klo oder zu Aldi gehen. Banalitäten und Intimitäten werden veröffentlicht. Infos über das Gernsehprogramm des Abends, den ersten Geschlechtsverkehr und die Qualität des Nachtschlafs wechseln sich mit hochkarätigen Nachrichten und Hintergrundberichten ab. Entscheidend wird damit für den anspruchsvolleren User, die zweifellos vorhandene inhaltliche und stilistische Qualität in einem Haufen Sondermüll zu entdecken.

René Descartes formulierte 1641 seinen Leitsatz »Cogito, ergo sum« = »Ich denke, also bin ich«. Heute würde er vermutlich schreiben: »Ich blogge, also bin ich«, denn nur die aktive Anwendung der »Web 2.0«-Ebene garantiert Daseinsberechtigung in unserer schönen neuen Welt.

Der unbestrittene Wert des Internets besteht darin, dass es Menschen miteinander verbindet. Wer glaubt, dass das Netz ein eigenständiges Wesen darstellt, und deshalb eine symbiotische Beziehung mit einer Maschine eingeht, sollte besser zum Arzt gehen.