19.12.08

Wilhelm Ruprecht Frieling

Vom Bashing und Prokrastinieren

In Berlin leben derzeit 190 verschiedene Nationalitäten einträchtig nebeneinander. Dennoch kommt es hier und da zu kleinen Reibereien. In Marienfelde erlebe ich Kulturkampf pur auf einem Trödelmarkt. In Sachen »Ethik oder Religion« sammelt dort eine Kampagne Unterschriften, die von christlichen Kirchen initiiert wird und darum barmt, auch weiterhin an staatlichen Schulen Religionsunterricht veranstalten zu dürfen. Ich gehe schnell weiter.

Doch bereits an der nächsten Ecke bremsen mich moderne Kreuzritter. Sie versuchen mit kruden Argumenten, meine Stimme gegen die Errichtung von Moscheen zu kassieren. Islam-Bashing heißt dieser Trend, der dem Andersgläubigen das Streben nach der Weltherrschaft unterstellt und dabei klammheimlich den »richtigen« Glauben propagiert. Ich fühle mich unwohl, entere die S-Bahn und fliehe gen Mekka.

In »Prenzelberg« ersehne ich Ruhe und Frieden. Der derart liebevoll abgekürzte In-Bezirk Prenzlauer Berg im Osten Berlins löste nach der Wende den im Westen gelegenen Kreuzberg als Hochburg der Alternativen, Künstler und Freaks ab. Kreuzberg, das bis 1989 im Schatten der Mauer verkümmerte, stieg zum neuen Augenstern der Spekulanten auf. Alternativ bot der Prenzlauer Berg mit seinen unsanierten Mietskasernen und verlotterten Höfen die stilechte Kulisse für das Leben der städtischen Subkultur. Es wurde zum idealen Rückzugsgebiet für Lebenskünstler und Habenichts, die sich nostalgisch am verblassenden Schein des Realsozialismus wärmten.

Doch auch in dieser Gegend voll vergilbtem Charme gibt es Fronten. Denn in Prenzelberg nistet ein neuer Feind, und der wird inzwischen aktiv angegangen: Es sind nicht die Gegner des Religionsunterrichts oder die Erbauer von Bethäusern mit Minaretten und Kuppeln. Die wahren Feinde sind »die Schwaben«, verrät mir ein Flugblatt, das mir der Wind in die Hände spielt.

»Schwaben« werden diejenigen genannt, die in den letzten Jahren Prenzelberg überfluteten, wenn man den Dialektchorälen auf Straßen und Plätzen folgt. Von Mutti und Vati in der Ferne mit reichlich Kohle ausgestattet, können sie sich attraktive Dachgeschosse und große Wohnungen leisten und treiben damit die Mieten in die Höhe. Einige kaufen sich gar ein Loft, denn das gilt als Zukunftsinvestition. Das ruft die eingefleischte Prenzelberger Szene auf den Plan, die den »Ökoschwaben« den Kampf angesagt hat. Schwaben-Bashing, das öffentliche Beschimpfen der Schaffe-schaffe-Häusle-baue-Schicht, heißt der neue Volkssport missmutiger Zeitgenossen.

Die von überall bunt zusammen gewürfelte »Ureinwohnerschaft« der Kiezes will es laut öffentlichen Aufrufen nicht mehr hinnehmen, »dass siebenjährige blonde Mädchen mit täglich neu geflochtenen Zöpfen schon wissen, was Dim Sum mit Shrimps, Frühlingslauch und Koriander ist«. Sie verwahren sich gegen »Pornobrillenträger«, die »mit ihren Sechziger-Jahre-Citroens sämtliche Parkplätze besetzen und die Cafébänke blockieren, weil sie zwischen zwei wichtigen Gesprächen noch einen Latte trinken müssen«.

Die verhassten Prenzelberger Schwaben schicken ihre Kleinen zum Kinder-Yoga, damit sie »etwas ruhiger« werden. Sie geben ihren Weimaranern und Windhunden nur dann Auslauf, wenn Herrchen die »Shrek«-DVD zur Videothek zurück bringt. Sie beziehen vom Ökomarkt »Katzenkroketten mit Fisch« und tun gleichzeitig so, als lebten sie linksalternativ, schockiert mich das fliegende Blatt.

Im frisch gebackenen Mittelständler erkennt der Eingeborene, der allerdings meist selbst irgendwann zugezogen ist, den neuen Intimfeind. Schon an ihren geheimnisvollen Berufsbezeichnungen werden die »Schwaben« ausgemacht. Denn jeder von ihnen ist längst vom simplen Webdesigner zum »CEO« oder »Head-of-Irgendwas« aufgestiegen. Und zu jedem Willi Wichtig gehört selbstverständlich eine taffe Businessfrau mit dickem Portemonnaie.

Dabei sind die Mitglieder der neuen Kaste, und das stört den eingefleischten Prenzelberger offenbar besonders, oft konservativer als die eigenen Eltern. In ihren Cafés erteilen sie Farbigen und Sinti Hausverbot und leisten alles, um Mittelmaß und Spießertum zu verbreiten. Doch der schlimmste Vorwurf lautet: die Schwaben wollen den Ku'damm des Kiezes, die Kastanienallee, zu einem Berliner Ballermann umgestalten, auf dem hordenweise Touristen rauf- und runter getrieben und in Edelläden ausgenommen werden. Der echte Prenzelberger wünscht sich deshalb sein Paradies zurück und verflucht die verwöhnten Yuppies aus dem reichen Süden.

Und schon begegnen mir leibhaftige Schwaben, als einer ihrer Sprösslinge mit einem Holzrad unsanft über meine Füße fährt. Im wahrsten Wortsinn in der Gosse lande ich wenig später, als zwei schwäbelnde Mütter vom Kollwitzplatz mit ausladenden Kampfpanzern nebeneinander den engen Gehweg pflügen, bevor sie sich in einem Café verbarrikadieren. Sie existieren also tatsächlich!

Wo einstmals morbider Charme lockte, herrscht heute verbaler Straßenkampf. Wo gestern noch unisono Eintracht herrschte, werden heute Lebensstile verglichen, als gelte es, epochale Zäsuren festzumachen. Besonders, seitdem die »digitale Bohème« das Schlagwort vom »Prokrastinieren« vereinnahmt hat, treten die Gegensatz schärfer denn je zu Tage.

Unter diesem Zungenbrecher darf der Nichtlateiner das zur Kulturleistung erhobene gepflegte Aufschieben notwendiger Leistungen verstehen. Im Kern geht es also um den frontalen Zusammenstoß jener, die den unbeschwerten Lebensgenuss pflegen, mit jenen, die dem schwäbischen Motto »Schaffe, schaffe, Häusle baue« huldigen.

Berlin, Berlin, Berlin! Als hätte die Stadt keine anderen Sorgen, wird an jeder Ecke aktives Bashing betrieben. Da prokrastiniere ich doch lieber ein Weilchen und lebe in fröhlicher Armut wie ein großer Herr.