21.06.07

Wilhelm Ruprecht Frieling

Schweine im Weltall

Flug AB 9142 ist startklar. Ich beäuge am Fenster die betongraue Landebahn. Da zwängt sich ein menschliches Tonnengewölbe neben mich. Heilige Kalbsleberwurst, was ist das für ein Bär! Der Fleischberg presst sich in meine Sitzreihe und quillt aus allen Nähten. Seine Wampe schwappt über die abgrenzende Lehne auf meinen Sitz. Fettpolster legen sich auf meine Schulter, meinen Arm, meine Brust, meinen Oberschenkel. Ein Entkommen aus der Situation scheint unmöglich.

Ich ersticke unter den mächtigen Massen, die sich auf mich legen. Mühsam dränge ich mit meinem Arm die wabernden Wogen zurück und hoffe, ihr Besitzer nimmt mein Signal wahr und zieht sich auf sein angemietetes Terrain zurück. Stattdessen schnauft der Berg, öffnet den obersten Hosenknopf und kreißt. Pfeifend entweicht Extrafett. Ein Geruch von ausgelaugten Teebeuteln steigt auf. Ich bekomme Platzangst.

Meine Kräfte sind der feisten Flut kaum gewachsen. Mit Händen und Füßen drücke und schiebe ich, doch ich bin nur ein Krümel unter der Masse des knetbaren Materials. Ich ramme meinen spitzen Ellbogen in die Weichteile meines Nebenmannes und dresche mit einer Tageszeitung auf ihn ein. Das Michelin-Männchen reagiert nicht einmal. Flehentlich bitte ich den Koloss, mich für die Stunden der gemeinsamen Flugreise wenigstens Luft holen zu lassen. Mühsam dreht er seinen schweißnassen Schädel in meine Richtung und fixiert mich aus geschwollenen Froschaugen. Dann keucht er kurzatmig: »Ich brauche doch auch Luft, wie soll ich denn sonst sitzen«.

Auf dem Schoß bunkert das Elefantenbaby diverse Schokoriegel und drei Tüten Popcorn. Aus einer stopft er sich das Maul und glotzt währenddessen verzückt auf die Zeichentrickfiguren, die über den Bordbildschirm hopsen. Popcorn bröselt über sein Hemd und sammelt sich in den Hosenfalten. Mein Beinkleid sieht aus, als habe es geschneit. Ich drehe die Lüftung über dem Sitz auf, um etwas Frischluft zu bekommen. Es nutzt wenig. Seine Korpulenz wächst unverdrossen in die Breite. Mir schwinden die Sinne. Ich bin lebendig begraben und läute verzweifelt die Glocke, die auf meinem frisch errichteten Grabhügel steht. In höchster Not alarmiere ich das Bordpersonal!

Die Linienmaschine ist ausgebucht, und die Stewardessen haben keinen Ersatzplatz frei. Warum Herr Fettberg denn nicht zwei Tickets kaufen muss, um sich auszubreiten, frage ich laut und mit hörbarer Schärfe. Jede Tasche wird gewogen und Übergepäck mit frechen Frachtkosten belegt. Warum muss ich dann mit meinen 75 Kilo Lebendgewicht genau so viel zahlen wie eine 200-Kilo-Fleischwurst? Und muss ich dem Klops gestatten, dass er mich zerdrückt? Immerhin habe ich für einen vollen Platz bezahlt, und den möchte ich bitteschön auch bekommen.

Ich solle bitte mehr »Verständnis« zeigen, säuselt das uniformierte Mäuschen, das die Passagiere umsorgt. Der Herr sei nun einmal »stark« gebaut und könne sich nicht kleiner machen. In ihre »Crew Rest Compartment« genannte Puppenstube oder in den Frachtraum für Tiere will sie ihn allerdings auch nicht pferchen. Wahrscheinlich würde schon bei seinem Auftreten die Ladung verrutschten und das sensible Fluggerät in gefährliche Schieflage bringen.

Stinksauer blättere ich in einer Illustrierten für die Info-Elite, die mir die Stewardess als Ablenkung vom Unsäglichen spendiert. Bereits im Aufmacher erfahre ich passend zu meiner Nachbarschaft: Deutschland ertrinkt im Fett. Wir sind Schwergewichtsmeister. 53 Prozent der Bevölkerung sind übergewichtig, 18,8 Prozent der Erwachsenen sind sogar krankhaft fettleibig. Die Republik ist bezogen auf das Übergewicht seiner Bürger die uneingeschränkte Nummer Eins in Europa. Was für ein sterbenslangweiliger Artikel! Der Verfasser hätte sich vor der Niederschrift mal von einem Fleischberg knutschen lassen sollen, dann wäre sein Beitrag entschieden lebendiger ausgefallen.

Neben mir schwillt das Ungemach um weitere Kubik. Wenn der Wanst jetzt platzt, stecke ich im wahrsten Wortsinn bis zum Hals in der Scheiße. Ich wünsche die ächzende Fettschürze in die Hölle. Satan würde sich vielleicht über einen extrafetten Braten auf seinem Grill freuen. Erstmals in vielen hundert Flugstunden interessiere ich mich für die Display-Anzeige »Verbleibende Flugzeit« und zähle die Stunden bis zur Landung …

Jäh schwankt das Fluggerät wie eine Arche kurz vorm Kentern. Durchstößt der Pilot die Achse des Bösen? Gibt es atmosphärische Unruhen? Sind Aufrührer an Bord? – Weit gefehlt! Die menschliche Ladung bewegt sich: Ein Nilpferd aus einer hinteren Sitzreihe watschelt Richtung Klo. Zuerst wird ein rosafarbener Turban mit angeklebten blonden Haaren sichtbar. Dann rudern zwei mit goldenen Ketten und Armreifen dekorierte rot verbrannte Armwülste durch den Gang. Sie halten einen monströsen Körper im Gleichgewicht. Eine zerlaufene Tätowierung in der Form Italiens lässt auf die Glanzzeiten der Dame schließen, die sich einstmals eine schlanke Rose in den Oberarm stechen ließ.

Unter ihrem stark ausgeschnittenen orangegrellen T-Shirt mit Goldstickerei schwingen schwere Soft-Titten. Ihr Hängebauch lässt den Eindruck einer weit fortgeschrittenen Schwangerschaft entstehen. Ganz unten wölbt sich ein gewaltiger Quadratarsch, für den vermutlich eine komplette Sitzreihe benötigt wird. Der Riesenschinken steckt in einer türkisfarbenen Stretchhose, die wie ein überstrapaziertes Kondom an ihrem Körper klebt. Ihre aus Dackelbeinen wachsenden Fußklumpen werden von goldenen Sandalen umschnürt, die einstmals römische Gladiatoren trugen.

Miss Piggy wird von zwei feisten Halbwüchsigen mit Speckringen um die Hüften vorwärts geschoben. Von hinten versuchen die mit Trägerhemdchen behängten Spanferkel, die mopsige Mama durch den Gang zu pressen. Mit geübten Bewegungen greifen sie hier ins Hüftgold und drücken es nach vorn. Dort heben sie mit vereinten Kräften einen Wulst an, damit sich ihre edlen Weichteile nicht in den Sitzreihen verkannten. Am Ende der paradiesischen Prozession kläfft ein einstmals weißer Pudel. Offenbar einer Tragetasche entsprungen, springt die schmuddelige Wurst um die Gesellschaft herum und treibt sie an. Bin ich beim Casting für »Schweine im Weltall« gelandet?

Bei jedem Tritt der gigantischen Dame winselt der Airbus um Gnade. Die Bodenplatten biegen sich, aber sie halten stand. Das Fluggerät zittert als schlage sein letztes Stündchen. Madame schnauft zum Steinerweichen, brabbelt auf ihrer Wanderung ins Leere und unterhält die anderen Reisenden, denen sie beim Vorbeidrücken die Arme quetscht. Ihr penetrantes Parfum belästigt als süßlicher Nebel meine Nüstern. Sie duftet wie eine Mischung aus christlicher Ekstase und vergewaltigter Oma. Brechreiz, ich schmecke dich! Verzweifelt halte ich den Atem an und zwinge mich, den Blick abzuwenden und wieder in der Zeitschrift zu blättern.

Nach einer Weile wankt das Riesenweib samt Gefolge zurück. Ihren Geruch schiebt sie als träge Wolke vor sich her. Ich mag mir kaum vorstellen, was die Bagage zwischenzeitlich in der engen Toilette des Flugzeuges veranstaltete. Mit den neugierigen Augen eines unschuldigen Kindes starre ich sie an und danke den Schicksalsgöttern für ihre Milde, die mich vor dem Schlimmsten bewahrt hat! Ich schwitze zwar neben einem debilen Sumo-Ringer, der mich fast zerdrückt und dabei Popcorn über mich verstreut. Gegen die Walküre ist mein Sitznachbar jedoch ein Fliegengewicht. Unendlich grausamer wäre es, unter dieser Monsterqualle als Strandgut lebendig begraben zu sein, ihren fischigen Geruch einzuatmen und ihr unsägliches Gebrabbel zu ertragen, während ihr ungepflegter Köter an meinen Hosenbeinen nagt!

Alles ist relativ. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Qualle wird mir mein feister Nachbar jedenfalls regelrecht sympathisch. Es scheint mir selbstverständlich, dass er sein Tablett aufgrund seines Körperumfanges nicht herunter klappen kann. Gern kann er mein Tischchen benutzen, um sein Bordmenu darauf abzustellen und zu verzehren. Auch als Ablage für seinen kolossalen Arm bin ich optimal geeignet und ergebe mich in mein Schicksal. Als schließlich sein fetter Wurstfinger auf mein unberührtes belegtes Brot deutet, überlasse ich es ihm gern. Wer bereits lebendig begraben ist, der muss nicht mehr essen und teilt gern mit den Hungernden dieser Welt. Der Wanst wird mir beim Zusammenwachsen über den Wolken ein lieber Weggefährte, denn jetzt ahne ich: es hätte mich weitaus schlimmer treffen können!

Bei abgedunkelter Kabinenbeleuchtung und der dumpf schuppigen Geräuschkulisse im Flugzeug verknüpfe ich meinen Kopfhörer mit dem Bordsystem und höre »Das Dschungelbuch«. Darin geht es um das Findelkind Mowgli, das sich mit den Tieren des Dschungels anfreundet. Das schlangenhafte Wispern des Sprechers erinnert mich an die Schlage Ka, die Mowgli hypnotisieren und in tiefen Schlummer versetzen möchte. Sanft schmiege ich mich an den menschlichen Airbag neben mir und träume von Mowglis Freund Balou, dem gutmütigen Zottelbären. Ich genieße die weichen Windungen seines Körpers, die mir als Kissen dienen und summe »Versuchs mal mit Gemütlichkeit«.

Im süßen Schlummer sehe ich mich von Riesenweibern verfolgt, die sich wie hungrige Gottesanbeterinnen über mich stülpen, um mich mit Haut und Haaren zu verschlingen. Schweißnass erwache ich beim Zielanflug und freue mich, weiterhin zu den Lebenden zählen zu dürfen. Nach der Landung frage ich meinen bärenartigen Nachbarn, ob er zufällig auch an dem Tag zurückfliegt, den ich gebucht habe. Ich würde mich unendlich auf seine erneute Nachbarschaft freuen! Dann weiß ich wenigstens, was auf mich zukommt und werde vor Schlimmerem bewahrt.

Diese Kolumne finden Sie auch in Wilhelm Ruprecht Frielings Buch »Angriff der Killerkekse«.