22.05.11

Wilhelm Ruprecht Frieling

Chaos, Karma, Katastrophen

Langsam werde ich sauer. Schon wieder ist ein Tag zu Ende gegangen, für den mit tausendprozentiger Gewissheit der Weltuntergang vorausberechnet worden war. Ich erwache wie an jedem beliebigen Morgen, und überhaupt nichts Weltbewegendes ist passiert. Jetzt muss ich zu allem Übel doch noch Staub saugen und den Müll entsorgen, was ich angesichts des nahenden Untergangs für entbehrlich gehalten hatte. Allmählich beginnen mich diese unerfüllten Untergangsszenarien zu langweilen.

Als Katastrophen-Bär bin ich der optimale Kandidat für derartige Prophezeiungen. Nach dem angekündigten Computer-Crash zur Jahrtausendwende, der die Welt gnädig verschonte, und dem ich mit einer Totalversorgung bis zum Gaskocher für drei Monate begegnete, stand der Panikmacher Vogelgrippe vor der Tür. Tamiflu hieß das einzig wirksame Mittel, das im Vorfeld einer Pandemie helfen sollte, vom Killervirus verschont zu bleiben.

Öffne ich heute meinen Kleiderschrank, stürzen mir Wagenladungen Pillenschachteln entgegen, die ich für mich und meine Freunde auf dem Schwarzmarkt besorgt hatte, um auf alles vorbereitet zu sein. Zwar ist die Haltbarkeit des Zeugs längst abgelaufen, und die Vogelgrippe hat uns ebenso wie die Schweinepest verschont, aber ich bin vorbereitet. Überhaupt, Haltbarkeitsdaten: Finde ich im Kühlschrank ein Stück Käse oder Wurst, dessen Verfallsdatum naht, dann beäuge ich es kritisch von allen Seiten, ob es denn wohl noch genießbar sei und entsorge es vorsichtshalber.

Immerhin grassiert auf Madagaskar wieder die Pest, und ich klampfe heiter beschwingt das alte Volkslied »Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord. In den Kesseln, da faulte das Wasser, und täglich ging einer über Bord.« Doch die Pest kommt nicht in unsere Breiten, obwohl mein Schwesterherz gerade meinte, unbedingt das verseuchte Eiland bereisen zu müssen. – Schon wieder eine Chance verschenkt!

Zur Ablenkung lese ich Hermann Harry Schmitzens »Buch der Katastrophen«. Das ist Lektüre nach meinem Geschmack. Die prächtigen Kabinettstückchen aus dem bürgerlichen Heldenleben des als »Dandy vom Rhein« geltenden Düsseldorfer Sprachtalents enden nämlich grundsätzlich im Fiasko. Schmitz, der sich schon mit jungen Jahren anno 1913 mit 33 Lenzen das Lebenslicht ausblies, um nicht länger husten zu müssen, ist der Meister der grotesken Überzeichnung und eine Entdeckung für jeden, der gern lacht.

Der Umzug mehrerer Parteien in einem Mietshaus führt bei ihm zu einem katastrophalen Tohuwabohu und endet in einer herrlich chaotischen Spirale, da sämtliche Möbelstücke in endloser Folge verrückt, durcheinander gewürfelt und angestoßen werden. Die Rivalität eines neureichen Brauereierben mit den Alteingesessenen und Honoratioren der Stadt mündet in einem Kleinkrieg, der zur Ausrottung sämtlicher Automobile führt. Will Mutter dem Vater endlich einmal akzeptablen Kaffee kredenzen und entschließt sich zum Erwerb einer modernen Kaffeemaschine, dann endet die Inbetriebnahme der patentierten Errungenschaft garantiert in der Auslöschung der gesamten Familie. Den Ausflug mit seiner Erbtante in ein amerikanisches Kaufhaus zwecks Erwerbs einer Bluse überdehnt Schmitz schließlich zu Wochen, Monaten und Jahren qualvollen Umherirrens in den Etagen und Abteilungen des gigantischen Warenpalastes.

Seine köstlichen Einakter schrieb der Meister der Groteske bereits vor rund hundert Jahren. Damals passierte wenigstens noch etwas. Doch heute? – Zugegeben, gelegentlich bricht mal ein Vulkan mit unaussprechlichem Namen aus und schleudert Aschewolken gegen Flugzeuge. Auf Sonneninseln werden Tankstellendächer von Windhosen gepackt und samt Palmen durch die Lüfte geschleudert. Ölplattformen reißen hier und dort aus ihren Verankerungen und die schwarze Plempe sprudelt lustig weiter. Japanische Atomkraftwerke werden von Riesenwellen getroffen und geben den Geist auf. Brennstäbe fressen sich in die Erde, Meere werden verseucht, Vögel fallen tot vom Himmel, Uhren bleiben stehen. Doch schon ein paar Tage später ist alles vergessen, die Medien wenden sich neuen Themen zu, und alle gehen zur Tagesordnung über als wäre nichts geschehen.

Chaostheorien haben eine erstaunlich kurze Halbwertzeit. Dabei möchte täglich die Polumkehr stattfinden und alles durcheinander wirbeln. Das Erd-Magnetfeld könnte dabei verloren gehen, gefährliche kosmische Strahlung würde uns rösten, ein weltweites Chaos wäre die Folge. Oder würde sich doch wenigstens ein Meteor mit monströsen Ausmaßen kurzfristig erbarmen, unsere Erde zu touchieren! Ach, wie bemerkte Cäsar Flaischlen, der Dichter des Jugendstils, doch einst so schön: Es ist alles nur ein großes Warten ...