28.06.07

Wilhelm Ruprecht Frieling

documenta 12: Kunst ist Kunst ist Kunst ist ...

Es gibt deutsche Städte, die werden einmal im Jahr von den Musen geküsst und erwachen aus dumpfem Dämmer. Bayreuth zählt für mich dazu. Im Hochsommer, wenn auf dem Grünen Hügel die Lichter entzündet werden und Richard Wagner von einem internationalen Publikum gefeiert wird, wacht der verschlafene oberfränkische Ort auf und macht in Kunst. Jede Apotheke stellt Richards Büste ins Fenster und bietet Wagner-Pillen feil. Das staubgraue Stadtbild wird von Musikanten und anderen Künstlern freundlich gefärbt. Der Besucher könnte meinen, er sei in einer aufgeschlossenen und kunstsinnigen Metropole gelandet, wenn er seine Pizza »Rheingold« viertelt.

Im nordhessischen Kassel, das sich offiziell »documenta-Stadt« nennen darf, werden ansatzweise ähnliche Tendenzen spürbar. Da die internationale Kunstschau aber nur alle fünf Jahre stattfindet, und die Bevölkerung schwerfällig wirkt, dauert es vermutlich noch Jahrzehnte, bis sich die Möglichkeiten der Imagebelebung in die Köpfe gefressen haben. Es ist noch ein weiter Weg, bis Kassel wirklich zum gern beschworenen »Kunst-Kraftfeld« wird.

Wer den sich »Kunstbahnhof« nennenden unwirtlichen Kasseler Hauptbahnhof verlässt, wird in eine Betonlandschaft gespuckt, in der weder Wimpel grüßen noch Farbe lacht. Willkommen in der Metropole der Kunst! Leider weiß keiner der Gestalten, die sich in den Bahnhofsschatten drücken, wo die documenta-Halle ist. Es gibt weder Hinweise noch Schilder. Ein freundliches Mütterchen, »Gott bewahre, ich bin auch nicht von hier«, weist schließlich die Richtung an China-Imbiss und Billigmarkt vorbei zum Kunst-Kraftfeld. Dort belebt sich die Szene.

Foto: Kunst auf der documenta 12

Foto: Wilhelm Ruprecht Frieling

Heerscharen japanischer Touristen, silbergraue Pärchen und Jugendliche in Klassenstärke stehen Schlange vor den Containern, die Tagestickets zum Preis von 18 Euronen ausspucken. Sie haben sich pflichtgemäß ihrer Taschen und Rucksäcke zu entledigen; vermutlich denken die Wächter des Kraftfeldes, eines der rund 500 Exponate könnte von dem kunstsinnigen Völkchen aus aller Welt entführt werden. Überhaupt ist der Wärterdienst eine Katastrophe und raubt dem Besucher viel Spontaneität und Freude durch Formalismus und grobe Inkompetenz.

Die documenta 12 verteilt sich auf fünf Ausstellungsorte. Im Museum Fridericianum, dem zentralen Tempel der Kunstschau, beeindruckt den kunstsinnigen Besucher gleich zu Beginn eine Rollrüstung aus dem Baustoffhandel, die mit Bambusstöcken und Tüchern verhängt ist. Wie vergessen baumelt eine Plastiktüte an dem Gerüst. Das ist keine Werbung der Maler- und Lackiererinnung, sondern die zehn Jahre alte Installation »Löwe im Bonsaiwald« von Cosima von Bonin. Wer einen Katalog besitzt, darf die Tiefen des Werks ausloten: »So scheint von Bonin hier Greenbergs Diktum, dass das Wesen der Malerei in ihre Flatness zu suchen sei, noch wörtlicher zu nehmen als der von Tom Wolfe als Flatness-Streber karikierte Morris Louis: sie reduziert sie nämlich gleich auf eine Stoffbahn«. – Aha! Gut zu wissen. –

Die documenta-Halle gehört den Tieren. Die ausgestopfte, von Motten angefressene Giraffe »Brownie« aus dem einzigen Zoo im Westjordanland sorgte im Vorfeld für Schlagzeilen, weil die palästinensischen Behörden nicht einsehen wollten, was das steife Tier mit Kunst zu tun haben soll, und die israelischen Behörden Schwierigkeiten bei der Ausfuhr bereiteten. Nun steht es in der Kasseler Savanne der Künste und lässt sich anstarren. In seiner Nachbarschaft sind einige Knautschtiere postiert, die wie Pagodenwächter wirken.

In der Aue, einer Wiese vor der Orangerie, lädt ein hufeisenförmiger Hallenbau mit dem Charme einer Hühnerzuchtanlage und dem Klima eines orientalischen Schwitzbades. Ein fünf Meter langer Prospekt von Lu Hao dokumentiert das von der Abrissbirne bedrohte Stadtbild Pekings in klassischer Manier: Tusche auf Seide. Gleich daneben läuft ein Filminterview über den Schwulenstrich in Barcelona; Kurden singen rituelle Lieder, eine Dokumentarfilmerin begleitet einen Segeltörn in Edinburgh. Was immer auch Kunst ist, sie ist jedenfalls international und vielfältig.

Foto: Kunst auf der documenta 12

Foto: Wilhelm Ruprecht Frieling

In der von Lacation & Vassal entworfenen Schwitzhalle findet sich ein Teil der von Ai Weiwei eigens aus China heran gekarrten 1001 Holzstühle zum Meditieren. Auch diese Stühle sind eine Installation und verstehen sich unter dem Titel »Fairytale« (»Märchen«) als Hommage an die Gebrüder Grimm, die in Kassel zwischen 1812 und 1815 wesentliche Teile ihrer Märchensammlung aufschrieben. Zu den Stühlen brachte der chinesische Konzeptkünstler gleich auch noch tausendundeinen Chinesen aus Fleisch und Blut mit, um das Kasseler Stadtbild mit lebendigen Kunstwerke aufzulockern.

Vor dem Aue-Pavillon ist Ai Weiweis Installation »Template« zu bewundern. Das klarste Werk der documenta 12 besteht aus Holztüren von im Bauboom zerstörten Häusern der Ming- und Quing-Dynastie. Leider brach das zwölf Meter hohe Werk kurz nach Eröffnung der hunderttägigen Schau unter einem Regenguss zusammen. Jetzt ist das Mahnmal nur noch als Torso erkennbar. Sein Handelswert stieg damit: der Erwerber ist bereit, mehr zu zahlen als vereinbart, und der Künstler findet es besser als zuvor.

Von der Aue geht es zur »Neuen Galerie« vorbei an einem Kunsthandwerkermark. Mister Patschuli, Senegal-Toni, der Shiatsu-King und andere Anbieter von Multikultischnäppchen locken Besucher und bieten Souvenirs an. In der »Neuen Galerie« selbst werden hunderte Zeichnungen, Comics, Collagen, Malereien und Fotokopien gezeigt. Hier und da erklingt ein Schrei, grelles Licht flackert, dann herrscht Finsternis. Ähnlich ist es im Schloss Wilhelmshöhe, dem fünften Standort der Schau. Dort sind historische Arbeiten aus sechs Jahrhunderten in bunter Folge ausgestellt.

Treppenstufen, Lüftungsschächte, Glühlampen, Seile und viele andere Alltagsgegenstände sind auf der diesjährigen documenta zu Installationen gefügt, die dem Betrachter Rätsel aufgeben. In einer Video- und Klanginstallation wird der Begriff »I hate Fast Food« gebildet. – Ob da wer ans Essen denkt? Hier steht ein Stück Kirschkuchen auf einem Sockel, dort hängt ein verbogener Löffel mit Löchern. Alles erinnert ein wenig an die berühmten Fettecken von Joseph Beuys, der erst durch die dritte documenta 1964 richtig berühmt wurde. Es sind Werke, die Fragen aufwerfen, jedoch wenig über sich, die Künstler und ihr Anliegen verraten. Eine schaumige Beliebigkeit ist der Werkschau eigen. Vieles wirkt unfertig, gerade erst begonnen oder noch in Arbeit befindlich. Oft drängt sich die Frage auf, ob Kunst nicht auch gewisses handwerkliches »Können« verlange.

Foto: Kunst auf der documenta 12

Foto: Wilhelm Ruprecht Frieling

Die documenta 12 verzichtet ausdrücklich auf Erklärungen der Exponate und gibt sich bewusst formlos. Da viele Ausstellungsbesucher mit radikaler Formlosigkeit schwer umgehen können und nach Namen, Themen, Zusammenhängen und Erklärungen rufen, ist ein Zugang zur documenta nur individuell möglich. Den Machern geht es darum, Kunst auf die ästhetische Ebene zu transponieren. Die Ausstellung selbst soll zum Medium werden, lautet die Parole. Das scheint, beobachtet man die Besucherströme, durchaus gelungen.

Auffallend viele junge Leute besuchen die zwölfte documenta. Eine Mädchencombo inszeniert sich von den Werken und fotografiert sich. »Wir integrieren uns in Kunst«, lautet ihr Motto, und sie haben erkennbar Spaß dabei. Schulkinder begeistern sich für Videos von Fußballspielen und fühlen sich wie auf dem heimischen Sofa. Andere filmen sich und bitten sich wechselseitig als »Herrn Professor Doktor« um eine Meinungsäußerung zu Schau. Gelegentlich schlurfen Kunstfreaks in schwarzen Talaren mit im Kulturkampf verwitterten Gesichtern vorbei. Selbstdarsteller und Menschen, die sich erkennbar inszenieren, machen sich rar.

Überall stehen übrigens lebende Kunstwerke herum: Dutzende meist zarter Wärterinnen gähnen in jeder Ecke und verkünden die Anordnung, Jacken wieder anzuziehen und Taschen abzugeben. Sie tragen weiße Tuniken, auf denen ein verbeulter goldener Kronkorken prangt. Die Damen zucken mit den Achseln, werden sie nach dem Sticker gefragt. (Über die Kunstwerke wissen sie sowieso nichts). Nur eine strahlt und meint, es sei der Mittelpunkt einer angedeuteten Blume.

Im Devotionalienhandel der documenta überlege ich kurz, ob ich zu Ehren der gut informierten Schönen einen derartigen Korken für 2,50 mitnehmen soll, entscheide mich dann jedoch für ein Fischbrötchen bei »Nordsee«. Den Rückweg trete ich über den ICE-Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe an. Zwischen »Grillfrisch«, »Backfrisch« und »Zapfhahn« ist die große Kunst leider schnell wieder vergessen.