30.03.08

Wilhelm Ruprecht Frieling

Das Depot des Teufels

Als kleiner Prinz saß ich eines schönen Abends vor dick mit Leberwurst beschmierten Schnitten und schluchzte bitterlich. »Ich mag keine Leberwurst, ich will keine Leberwurst!« Doch eines schicksalhaften Tages öffnete sich die Tür zum Esszimmer, und eine mildtätige Fee mit weißer Schürze schwebte herein. Aus einem goldenen Füllhorn streute sie Zucker auf meine Brote, und ein Wunder geschah: ich verzehrte die Stullen ohne Murren.

In Folge kam die Zuckerfee immer häufiger zur rechten Zeit und versüßte mir das Abendbrot. Künftig gab es kein Geschrei mehr, und meine geplagten Eltern setzten das weiße Zaubermittel gern und häufig ein, um mich zu einem stillen Kind zu dressieren. Das prägte mein Leben und meinen Speiseplan nachhaltig.

Packt mich heute der Hunger, streune ich in Richtung Küche. Dort findet sich alles, was das Herz begehrt: frisches Obst, knackiges Gemüse und ein Kühlschrank voll mit biologisch korrekten Nahrungsmitteln. Doch ich ignoriere die gesunden Appetitzügler und pirsche zu einem schweren Apothekerschrank. Erwartungsfroh ziehe ich ihn auf und fühle mich dabei wieder wie ein Kind, das »Sesam, öffne dich!« ruft und ein Reich ungeahnter Schätze betritt. Denn in diesem Container liegt das Eldorado meiner Süchte. Und das sind ohne Wenn und Aber: Süßigkeiten, Süßigkeiten, Süßigkeiten! Dieser Schrank ist das Depot des Teufels, mit dem die Zuckerfee offensichtlich ein heimliches Verhältnis unterhält!

Beim Öffnen bietet sich mir die märchenhafte Inszenierung eines Ausstattungsfilms. Neben Schwyzer Kräuterbonbons, violetten französischen Anispastillen und englischen Buttertoffees marschiert eine international gemischte Armee soldatisch aufgereihter Schokoladentafeln. Eine Palette lackierter Rumkugeln hindert sie daran, in die Tiefe des Kabinetts zu stürzen und auf Nürnberger Lebkuchen, »Hildegards Energieplätzchen«, Aachener Printen, schottische »Shortbread Fingers« und einen Hochwald Salzstangen zu plumpsen, die unter ihnen logieren.

Diese Köstlichkeiten teilen ihr Reich mit ägyptischem Halva, Ulmer Borkenschokolade, provenzalischer Karamellcreme und sizilianischer Pistazienpaste, mit Lavendelhonig aus der Provence und kanadischem Ahornsirup. Russisch Brot, das Russland nur vom Hörensagen kennt, logiert dort neben spanischen Mandeln, getrockneten Feigen aus der Türkei, entkernten tunesischen Datteln, griechischen Korinthen und kandiertem Ingwer aus Thailand. Und wie ein farbenfroher Blütenteppich blitzen die süßen Versuchungen der Lakritzfirma Haribo hervor.

In meinem Schlemmermaul bildet sich stets ein Feuchtbiotop, wenn ich in dieses Teufelsdepot schaue. Iwan Petrowitsch Pawlow liefert mit mir postum den lebenden Beweis, dass auch Menschen konditioniert werden und dem nach ihm benannten »Pawlowschen Reflex« erliegen. Ach, wenn es nur die Säfte wären, die in meinem Körper steigen, um das Einspeicheln und Verschlingen der Köstlichkeiten zu unterstützen.

Sehe ich verbotene Früchte blitzen, dann habe ich sie gedanklich schon verschlungen. Aus den tiefsten Kammern meines Magens schmettern die Trompeten einen Triumphmarsch und alarmieren die dienstbaren Geister, die in meinem Körper ruhen, bis sie zur Arbeit gerufen werden. Mein gesamter Organismus schreit laut und vernehmlich nach ZUCKER! – Denn so heißt der Stoff, in dem meine Träume schmelzen.

Bereits in seliger Kinderzeit drückte ich meine Nase platt vor einem Ladenlokal, das einem Herrn gehörte, den wir »Der süße August« nannten. August L. handelte mit Konfekt und Süßwaren aller Art und betrieb damit ein ganzjährig geöffnetes Teufelsdepot. Offenbar unterhielt auch er ein intimes Verhältnis mit der Zuckerfee.

In der Adventszeit lag in seinem Schaufenster ein rosafarbenes Marzipanschwein in Originalgröße, das eine unwiderstehliche Sogwirkung vor allem auf die jüngsten Flaneure ausübte. Meine Freunde und ich drückten unsere kleinen Nasen an die vereiste Scheibe. Unser Atem brannte Löcher in das Schaufenster. Allen lief das Wasser in den Mäulern zusammen. Wir konnten uns am Anblick des rosigen Vierbeiners, der auf einer mächtigen Schlachtplatte ruhte, nicht satt sehen und klebten oft stundenlang fröstelnd an der Fensterscheibe.

Irgendwann begann der süße August, an dem Schwein zu säbeln und verkaufte das Marzipan nach Gewicht an diejenigen, die nicht länger in stummer Verehrung verharren wollten. Wehmütig und mit knurrenden Mägen verfolgten wir, wie der Sau erst eine Haxe, dann die nächste abhanden kam. Kurz vor Weihnachten war schließlich nur der Kopf übrig, und spätestens an Sylvester hatte eine ungeschlachte Metzgerfrau mit roten Haaren, eine wachsbleiche Oma im Nerzmantel oder ein anderer zahlungskräftiger Kunde dem süßen August auch die letzten Brocken abgekauft. Die Schlachtplatte wich Etageren mit Pralinen, Bonbons und kandierten Früchten. Die schaulustigen Süßmäuler aber wussten: im nächsten Jahr wird wieder eine Sau geschlachtet, und allen lief bereits in Vorfreude das Wasser im Munde zusammen.

Historisch betrachtet sind also der süße August und die Zuckerfee schuld, wenn ich heute in die Küche schleiche und dort über alle Grenzen der Vernunft hinweg im Ozean der Süßigkeiten bade, um meiner Fresslust zu frönen. August der Süße war es, der mich früh in die Welt der Ersatzhandlungen lockte und die Zuckerfee unterstützte ihn dabei tatkräftig. Mit einer verzuckerten Kindheit und einer entsprechend ungesunden Erziehung lässt sich heute nahezu jede Sünde erklären, wenn ich das Depot des Teufels öffne, mir in unbeobachteten Augenblicken den Magen voll schlage und gelegentlich sogar Zucker auf Wurstbrote streue.