10.10.05

Till Frommann

Das schlechte Weltbild einer Supermarktkassiererin oder
Weshalb ich meine Geheimzahl am Ende dieser Kolumne nicht verraten werde

Man macht zum Beispiel keine Witze über Geheimzahlen. Einer geht so: Man stellt sich an der Supermarktkasse an, wartet, bis die freundliche, aber etwas verrückte Kassiererin einen begrüßt und gibt ihr die EC-Karte. Man könnte sich jetzt herausreden: Es war Notwehr. Man wollte sprechen, bevor sie die Gelegenheit bekommt, etwas zu sagen. Denn diese freundliche, aber verrückte Kassiererin hat mächtig einen an der Waffel und blubbert alle Kunden mit seltsamen Dingen zu. Smalltalkthemen. Kommentiert den Einkauf. Sagt: »Ich platze gleich!«, wenn man seine Pfandflaschen abgeben will – dabei würde nicht sie platzen, sondern der Pfandflaschenannahmesack neben ihr, der wieder einmal zum Bersten voll mit Pfandflaschen ist.

Und dann nimmt sie die EC-Karte. Und dann reicht sie einem ein Gerät mit Zahlentasten herüber. Und dann muss man zunächst den Betrag bestätigen, den man zu zahlen hat. Und dann, jaja, muss man die Geheimzahl eintippen. Was ich dann auch tat. Mit der richtigen Kombination. Jedoch sagte ich laut und deutlich vier vollkommen andere Ziffern: »Sechs-vier-eins-drei«, sagte ich. Und dann sah mich die freundliche, aber verrückte Kassiererin erschrocken an. »Aber man verrät doch nicht seine Geheimzahl«, sagt sie sichtlich verunsichert. »Sie wissen doch, wie schlecht die Menschen sind.«
Ich daraufhin: »Das ist jetzt aber ein negatives Weltbild, was Sie haben.«
Und sie sagt: »Aber es ist doch so. Man kann nur sich selbst vertrauen.«
Und ich sage: »Dann kann ich Ihnen also auch nicht vertrauen?«
Und sie sagt: »Doch, doch. Beruflich schon. Aber privat vielleicht nicht.«
Und ich sage: »Da haben Sie vielleicht doch Recht. Diese widerlichen, schrecklichen und immer betrügen wollenden Mitmenschen. Diese ekligen, verblödeten Plagegeister! Schrecklich, schrecklich, schrecklich.«

Und dann, nach diesem philosophischen Gespräch, verließ ich den Supermarkt. Und dann hätte die Geschichte beendet sein können. Aber noch einmal die Warnung: Niemals Witze über Geheimzahlen machen. Ich wiederhole: Niemals wieder! Ich hatte meine richtige Geheimzahl nämlich vergessen. Einfach so. Nur weil ich einen Witz gemacht habe. Über meine Geheimzahl. Und über das negative Weltbild einer Supermarktkassiererin.

Und es lag wirklich nur an diesem Witz. Denn woran hätte es sonst liegen sollen? Mein Privatleben war so langweilig wie immer. Keine Affären mit seltsamen Frauen. Keine Dreiecksbeziehungen. Kein Stress. Nichts also, was mich aus dem Ruder hätte werfen und mein Gedächtnis durchschütteln können. Die Geheimzahl war weg. Futsch. War irgendwo zwischen irgendwelche Gehirnwindungen gerutscht und hatte sich dort verkantet.

Und dann dachte ich daran, was ich noch alles vergessen könnte, woran ich mich jedoch unbedingt erinnern möchte. An fünf wunderbare Jahre meines Lebens zum Beispiel. Na gut, viereinhalb Jahre. Vielleicht waren es auch nur vier Jahre. Aber es war eine schöne Zeit. Wirklich. Und dann erinnere ich mich daran, wie oft ich im letzten halben Jahr den Film »Eternal sunshine of the spotless mind« gesehen habe – auf deutsch trägt er den auch ganz netten, aber nicht ganz so bombastischen Titel »Vergiss mein nicht«. In dem Film geht es darum, dass die ehemalige Freundin (gespielt von Kate Winslet) ihren ehemaligen Partner aus dem Gedächtnis löschen lässt. Und auch der ehemalige Partner (gespielt von Jim Carrey) will daraufhin die Erinnerungen an sie auslöschen. Fast der gesamte Film spielt im Gehirn von Jim Carrey, und es geht im Großen und Ganzen darum, dass er merkt, dass er die gemeinsame Vergangenheit mit seiner ehemaligen Freundin doch nicht verlieren will – und er deshalb versucht, vor dem Löschprozess wegzulaufen.

Vielleicht habe ich viel vergessen, aber dass es eine schöne Zeit gewesen ist, werde ich mir hoffentlich merken.

Und dann wurde meine EC-Karte gesperrt, weil ich drei Mal die falsche Zahl eingegeben hatte, als ich Geld am Automaten abheben wollte. Und irgendwann fiel sie mir dann wieder ein – erst hatte mir die freundliche Bankangestellte drei Versuche gegeben, um mich an die Zahl zu erinnern. Ich tippte drei verschiedene Kombinationen ein, von denen ich dachte, dass sie nahe dran waren am Zugang zum Geld. Aber ach: Alles falsch! Also bekam ich drei weitere Versuche. Und beim sechsten Versuch fiel sie mir dann glücklicherweise wieder ein. Und es war nicht »7912« und auch nicht »8366«. »7222« und »4285« waren ebenfalls falsch. Und »3376« stimmte auch nicht. »9567« führte auch nicht zu meinen riesigen, virtuellen Geldbergen. Aber, hach, leider hat man ja immer nur drei Versuche, um an die richtige Zahl zu kommen. Anders im Leben: Dort hat man zum Beispiel unendlich viele Möglichkeiten, sich lächerlich und unbeliebt zu machen.