15.03.07

Till Frommann

Ein ausgekochter Fernsehsüchtiger

Klick.

Ich hänge auf dem Sofa und schalte den Fernseher an – ein Zustand, der sowohl von mir als auch vom Fernsehgerät mehrere Stunden beibehalten werden wird. Ja, ich gestehe: Ich bin einer dieser kritikwürdigen Konsumenten. Ich bin ein Fernsehsüchtiger. Aber ich stehe dazu.

Es gibt Gründe für meine Abhängigkeit von diesen bunten Bildern, jedenfalls habe ich mir eine, wie ich finde, recht einleuchtende Erklärung zurecht gebastelt. Ansatz Nummer Eins: Nahezu alle Probleme entstehen (wie sollte es anders sein?) in der Kindheit, das wusste schon der gute, alte Freud. Und natürlich haben an meiner heutigen Fernsehsucht meine Eltern Schuld. Wer sonst, wenn nicht sie? Ansatz Nummer Zwei: Auch an meiner Vorliebe für Fernsehtrash, für dumpfe Unterhaltung und schrecklich-schauerliche Shows haben sie Schuld. Ansatz Nummer Drei: Ich selbst bin natürlich vollkommen unschuldig.

Einzig pädagogisch anspruchsvolle Sendungen durfte ich mir als Kind anschauen: »Löwenzahn«, »Die Sesamstraße«, tschechische Kinderserien und »Sandmännchen« waren erlaubt. Was ich hingegegen unter keinen Umständen sehen durfte, war das, was angeblich dumm machte: Das »A-Team« zum Beispiel. »Knight Rider«, diese Sendung mit David Hasselhoff und dem sprechenden Auto, das mich sowas von faszinierte. »Ein Colt für alle Fälle«. Und strikt Verbotenes ist nun einmal besonders spannend. Und deswegen mag ich ihn noch immer, den Fernsehdreck, den niemand wegwischt, aber alle anschauen und trotzdem leugnen, diesen jemals gesehen zu haben. Doku-Soaps auf RTL 2. Soap Operas. Telenovelas. »Explosiv – Das Magazin«. Das Boulevardmagazin »taff«. Zu dummdreist sind mir hingegen diese dämlichen Quizsendungen, bei denen den Zuschauern mit dubiosen Methoden das Geld aus dem Portmonee durch die Telefonleitung direkt in den 9Live-und-Konsorten-Geldspeicher gezogen wird.

Und sonst? Gibt es noch mehr Gründe, weshalb ich oftmals die Fernsehflackerei dem wirklich-wahren Leben vorziehe. Die Fiktivwelt ist zum Beispiel bunter. Spannender. Ganz einfach interessanter! Der Normalsterblichenalltag bietet keine Verfolgungsjagden in schicken und schnellen Autos, keine Außerirdischen, keine gar so wirren Irrungen und Wirrungen wie die einer Daily Soap. Die echten Mitmenschen sind doch fast immer langweiliger als die erfunden Charakterköpfe. Kurzum: Die Fernsehinhalte sind größer als das ganz normale Alltagsleben. Und mit meinem Fernsehkonsum flüchte ich vor dieser Monotonie.

Ich zappe mich durch die Programmelandschaft. Klick. Eine Talkshow mit irgendwelchen schreienden Menschen. Klick. Eine Kochsendung. Irgend etwas brutzelt. Klick. Noch eine Kochsendung. Irgend etwas blubbert. Klickklickklickklick. Auch Tiersendungen gibt es im Überfluss. Das ZDF zeigt jeden Nachmittag Geschichten aus dem Zoo. Die ARD präsentiert den Zuschauern werktäglich »Elefant, Tiger & Co«. VOX beobachtet »Menschen, Tiere & Doktoren«.

Und ich? Behalte den Überblick. Zappe weiter, wenn es mir zu langweilig wird. Die Tiersendung nervt? Klick. Weiter zu einer Talkshow. Die Talkshow nervt? Weiter geht's: Die Dokumentation »Aufgebrochen und aufgeräumt« zeigt Einbrecher und ihre fiesen Methoden, eine Tür aufzubrechen. Das ist sogar ein wenig lehrreich, falls ich einmal vorhaben sollte, beruflich umzusatteln. Fernsehen erweitert den Horizont, und einigermaßen spannend ist es auch – zumindest für ein paar Minuten. So lange, bis meine Aufmerksamkeit auch für dieses Programmangebot nachlässt. Klick. Weiter geht es, ich bin gespannt, was meine ach so kostbare Zeit als nächstes stehlen wird.

Ich gebe zu: Hyperaktives und hibbeliges Hin- und Hergeschalte ist das! Mit mir zusammen fernzusehen ist nichts für schnarchige Konzentrationisten. Gezielt schaue ich eher seltener etwas an, meistens bleibe ich zufällig bei irgend etwas hängen.

Manchmal schafft es eine Sendung jedoch auch, mich länger zu fesseln. Eine spannende Serie wie die »Sopranos« zum Beispiel, von der ich mir auf DVD etliche Folgen hintereinander – mitunter sogar eine halbe bis ganze Staffel am Stück! – anschaue. Spielfilme, die ich im Kino verpasst habe. Aber vor allen Dingen: Serien. Serien. Serien. Die sehe ich mir auf DVD an. Gezielt. Und, ja, auch Trash favorisiere ich.

Gut, um mich nicht ganz unter Wert zu verkaufen, muss ich zugeben, dass ich des Öfteren auch bei Arte und 3sat hängen bleibe. Auch die »Tagesschau« sehe ich regelmäßig. Dass ich Trash liebe, heißt ja nicht, dass ich Hochkultur verachte. Es kommt halt nur auf die Präsentation an: Wenn Wissenswertes unterhaltsam verpackt ist, verweile ich gerne – und lege die Fernbedienung kurzfristig sogar aus der Hand.

Eine kurze Fernsehsuchtstatistik: Ich habe fünf Fernbedienungen. Eine für den Fernseher selbst. Eine für den Videorekorder. Eine für den DVD-Player. Eine für den Digitalreceiver. Und eine Fernbedienung ist angeblich eine Universalfernbedienung, die die anderen ersetzen soll – was aber leider nur leidlich funktioniert. Weshalb ich sie trotzdem aufbewahre? Eine Sucht ist eben für Außenstehende – und leider manchmal auch für mich selbst – nur schwer nachvollziehbar.

Eine weitere Statistik, die nicht für mich sondern eher für ausgeprägtes Suchtverhalten spricht: Zusätzlich zu den frei empfangbaren Fernsehprogrammen habe ich mir einen ganzen Batzen an Pay-TV abonniert. Vom Programm »SciFi« lasse ich mich besonders gern einlullen: 24 Stunden lang Science-Fiction! Roboter, Zeitreisen und Aliens im Überfluss. Manche Sender besuche ich jedoch so gut wie nie – beispielsweise »Wein TV«, in welchem es den ganzen Tag um Weinsorten, Weinanbau und Weingenuss geht. Wenigstens bin ich nicht noch zusätzlich alkoholabhängig geworden. »tv.gusto« – ein Kochsender, in dem gekocht, gekocht und nochmals gekocht wird. Das gibt es auch im Gratisfernsehen zur Genüge. Irgendwann, finde ich, sollte es sich ausgekocht haben. Das »Wetter Fernsehen« mit nichts anderem als Wetter, Wetter, Wetter. »Gute Laune TV«, das mich eher in ganz miesepetriege Gemütszustände versetzt: Schlager- und Volksmusik den ganzen Tag!

Noch so ein Punkt, der mich definitv als Fernsehsüchtigen auszeichnet: Liebgewonnene Charaktere aus Sitcoms und anderen Serien werden manchmal so etwas wie virtuelle Freunde für mich. Wenn Doug und Carrie Heffernan tagtäglich in mein Wohnzimmer – per Flimmerkiste! – hineinschneien, ist das wie ein Besuch von besonders netten Bekannten. »Hallo Doug«, begrüße ich sie, »hallo Carrie«. Aber niemand von ihnen antwortet. Ich winke ihnen zu, aber niemand winkt zurück. Ach ja: Ist ja nur die Fernsehserie »King of Queens«, und Fernsehen ist leider, leider eher passiv. Da kann ich noch so lange winken, niemand winkt zurück, und dass mich meine Fernsehfreunde so ausdauernd ignorieren, macht mich furchtbar traurig und deprimiert.

Außerdem glaube ich mich daran zu erinnern, dass ich in einem Artikel über Fernsehsüchtige gelesen habe, dass diese ausgeprägt egozentrisch seien. Ich. Ich. Ich. Meine Fernbedienung. Mein Fernseher. Meine Programmauswahl. Über ihre Mitmenschen würden sie nur relativ selten nachdenken. Das halte ich für Unsinn. Ich bin nicht egozentrisch. Ich rede zwar viel über mich. Ich schreibe zwar viel über mich – gerade jetzt zum Beispiel. Ich benutze oft das Wort »ich«. Und okay, ich sehe schon: Womöglich hat die Studie doch Recht. Verdammter Mist! Anscheinend hat sie mich und meinen miesen fernsehverseuchten Charakter entlarvt.

Und vielleicht übetreibe ich ein wenig: Ich kann mich auch anders beschäftigen. Ich versuche, mich zwei Mal in der Woche in ein Fitnessstudio zu begeben, damit sich mein Rücken nicht noch weiter an eine Hufeisenform annähert. Hufeisen sollen ja angeblich Glück bringen; im Falle meines Körperwohlbefindens wäre das jedoch kein Idealzustand.

Auch lese ich äußerst intensiv Zeitung, höre Radio, surfe viel durchs Internet – manchmal jedoch alles parallel: Den Fernseher auf lautlos gestellt. Ein Radioprogramm läuft. Nebenbei blättere ich mich durch die Zeitung, was ich manchmal unterbreche, um mich durch eine Internetseite zu klicken. Wenn ich nicht so selbstkritisch wäre, könnte ich das als multitaskingfähig bezeichnen, realistischer betrachtet bin ich wahrscheinlich jedoch nicht nur fernseh-, sondern vollkommen mediensüchtig, vielleicht sogar mediengestört. Das Thema Kaffeesucht lasse ich an dieser Stelle unter den Tisch fallen.

Reale Freunde habe ich natürlich auch – nicht nur die fiktiven Charaktere aus den diversen Sitcoms, die mir über die Jahre ans Herz gewachsen sind. Ich kriege es oft hin, mich vom Fernseher loszueisen und mich mit ihnen zu verabreden. Dabei schaffe ich es, meine Fernsehsucht größtenteils zu überspielen, genauso wie es Alkoholiker schaffen können, ihre Alkoholsucht zu verbergen. Sie verstecken ihre Whiskyflaschen im Bücherregal, ich verdränge – so gut es geht – meinen Wunsch, über nichts anderes als Fernsehinhalte zu reden, was ich überaus erfolgreich beherrsche: Weil mich das Fernsehen nicht nur mit Fiktivkrams berieselt, sondern auch mit Nachrichten aus Politik, Klatsch und Tratsch, weil ich also durch meine Mediensucht überdurchschnittlich informiert bin, bin ich – so viel Protz wird hoffentlich erlaubt sein – ein guter und unterhaltsamer Smalltalker. Und wie man Pointen setzt und seine Gesprächspartner zum Lachen bringt, haben mir die vielen Comedysendungen beigebracht, die ich gesehen habe. »Eine schrecklich nette Familie«, »South Park«, die »Simpsons«, und Harald Schmidt waren, was das anbelangt, gute Lehrmeister. Überhaupt habe ich alles, was ich über das Leben wissen muss, aus dem Fernsehen gelernt.

Und ganz so schlimm, wie ich mich bis jetzt dargestellt habe, bestimmt das Fernsehprogramm nun auch wieder nicht mein Leben: Ich habe noch nie jemandem gesagt, dass ich keine Zeit hätte, weil dieses oder jenes auf RTL 2, Pro Sieben oder der ARD läuft. Wozu gibt es Videorekorder? Doch das, was man aufgenommen hat, sieht man sowieso meistens nie, und die Erkenntnis überwiegt, dass man eh nichts versäumt hat, wenn man die archiverte Sendung überspielt, ohne sie überhaupt mit einem Blick gewürdigt zu haben. Ja, auch das muss ich zugeben: Eigentlich sind die Fernsehprogramme verzichtbar – doch die Erkenntnis bringt mir nichts. Trotzdem muss ich ziellos hin- und herzappen. Muss meine manchmal melancholischen, pessimistischen Gedanken betäuben lassen von Krach, Krawall und Krimiserien.

Klick.

Ich schalte den Fernseher aus und mich gleich mit. Denn da ist nicht viel mehr: Ich definiere mich maßgeblich übers Fernsehprogramm, und wenn die Glotze nicht mehr läuft, strahlt meine Persönlichkeit auch nicht mehr in voller Gänze. Aber wahrscheinlich stimmt das überhaupt nicht – womöglich möchte ich lediglich etwas Trauriges und Herzergreifendes am Schluss erzählen. Anscheinend habe ich auch etwas von den klischeehaften Fernsehfilmen gelernt, in welchen (nur für den Effekt) am Ende die sympathische Identifikationsfigur stirbt.

Der Fernseher ist aus!

Stille. Ganz leise höre ich, wie in der Küche der Geschirrspüler rattert. Irgendwo draußen auf der Straße hupt ein Auto.

Ein Gedankenspiel: Ich lasse den Fernseher ausgeschaltet. Einen Tag. Eine Woche lang. Einen Monat. Ein Jahr. Würde mir etwas fehlen? Leider ja. Sehr sogar. Ich gestehe: Ich bin und bleibe fernsehsüchtig. Die viele Zeit, die mein Fernsehkonsum verschlingt, sehe ich andererseits auch nicht als verlorene Zeit an: Ich habe gelacht, ich habe getrauert, womöglich habe ich sogar bei einer interessanten Dokumentation etwas gelernt. Das Fernsehen macht mich zu einem besseren, weil informierteren Gesprächspartner, es macht mich, pathetisch ausgedrückt, zu einem besseren Menschen.

Klick.

Ich schalte den Fernseher wieder an. Alles so schön bunt hier.