Diese Kolumne lässt sich auch hören!

»Mindestens haltbar bis: Siehe Kolumnenende« vorgetragen von Tom Wendt
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).

16.05.05

Till Frommann

Mindestens haltbar bis: Siehe Kolumnenende

Es ist der 7. Juli 2005. Es ist ein schöner Tag, wie jeder Tag eigentlich in diesem herrlichen Sommer. Die Sonne scheint, es regnet nicht, es ist so, wie es immer sein sollte – es ist kitschig, aber es ist Sommer, und ich bin glücklich.

Vor mir liegt eine Dose mit Hustinetten-Hustenbonbons, und ich bin glücklich. Mein Blick fällt wieder einmal auf das Verfallsdatum, und ich wundere mich noch immer über die Genauigkeit. Bis zum 7. Juli 2005 um genau 10 Uhr 21 sind die Hustenbonbons mindestens haltbar, steht da.

Es ist der 7. Juli 2005. Es ist 10 Uhr 19. Ich sitze in meinem Zimmer in der Wohngemeinschaft, in welcher ich seit zwei Monaten lebe, und ich bin verwirrt, aber glücklich. Was wird passieren? Wird sich die Dose in Luft auflösen? Wird Rauch aufsteigen, so wie bei der Papstwahl, und dann verschwindet sie aus meinem Leben, und ich werde sie nie wieder sehen? Ich bin überhaupt nicht mehr glücklich, und ich habe Angst.

Es ist 10 Uhr 20, und Schweiß läuft mir über die Stirn. Es ist warm an diesem herrlichen Sommertag, aber das ist es nicht, weshalb ich schwitze. Ich habe Angst. Was wird passieren? Ich weiß nicht nur nicht, was in einer Minute passieren wird, sondern ich habe Angst, weil ich überhaupt nicht weiß, was später mit mir passieren wird. Alles ist ungewiss, nichts ist vorhersehbar, nur, was jetzt, in diesem Augenblick am 7. Juli 2005 passiert, weiß ich. Alles hat sich schlagartig geändert, und ich spüre, dass sich in weniger als einer Minute noch mehr ändern wird. Immer wieder ändert sich alles, immer wieder, und ich hasse diese Ungewissheit. Ich bin unglücklich, weil ich merke, dass es keine Sicherheit gibt und mir bewusst wird, dass es die noch nie gegeben hat. Das ist trivial, aber so ist nun mal das Leben: trivial und unvorhersehbar.

Es ist 10 Uhr 21, und ich höre Schritte, tapsige Schritte, laute Schritte, Schritte, die stark auftreten, elefantöse Schritte, die sich meiner Tür nähern. Jemand niest. Jemand schnieft in ein Taschentuch. Jemand klopft an meine Tür, und ich sage: »Ja, bitte?«, und die Tür öffnet sich.

Es ist trivial, und es ist vorhersehbar, was jetzt passiert – denn ich habe geahnt, was jetzt, am 7. Juli 2005 um 10 Uhr 21 geschehen wird, ich habe mich darauf vorbereitet. Es hat nichts mit der Realität zu tun, aber es ist beruhigend. Ich habe Fencheltee aufgesetzt, und ich frage den Hustinettenbär, ob er Zeit hätte, einen Tee mit mir zu trinken.

»Sie sind gar nicht überrascht«, fragt er mich verwundert, und ich antworte: »Weshalb sollte ich? Es stand doch groß und deutlich auf der Dose: Mindestens haltbar bis zum 7. Juli 2005, 10 Uhr 21. Ich wusste, dass Sie kommen würden.«

»Ach«, sagt der Hustinettenbär, und ihm fehlen die Wort, und er schnieft erneut in ein Taschentuch.

Und dann sitzen wir mehrere Stunden zusammen in meinem Zimmer und reden über dies und das. Der Hustinettenbär vergleicht sich mit dem Weihnachtsmann, woraufhin ich erwidere, dass ich ihn für größenwahnsinnig halte. Immerhin müsse der Weihnachtsmann alles innerhalb von einer Nacht erledigt haben, er hingegen, der Hustinettenbär, müsste lediglich von einem Verfallsdatum zum nächsten. Da verteilt sich die Arbeit. Da muss man nicht alles innerhalb einer Nacht erledigt haben.

Der Hustinettenbär wird panisch – ich habe ihn mit dieser Bemerkung daran erinnert, dass er arbeiten muss und dass er überhaupt keine Zeit hat, sich mit mir gemütlich bei einer Tasse Fencheltee zu unterhalten. Er springt auf und rennt zur Tür und ruft mir, während er aus meinem Zimmer stürmt, zu: »Es tut mir leid, aber ich muss gehen. Es warten andere Verfallsdaten auf mich. Ich muss mich darum kümmern. Ich habe schon vierunddreißig Termine verpasst.« Und noch einmal ruft er mir aus dem Flur entgegen: »Es tut mir leid. Wirklich.« Und dann ist er aus meinem Leben verschwunden und mit ihm die Hustinetten-Hustenbonbondose. Ich werde ihn und die Dose nie wieder sehen.

Wenn es doch für alles Verfallsdaten geben würde. Es ist trivial, unrealistisch und unvorstellbar, aber schauen Sie doch mal zwischen den großen, rechten Zeh ihres Partners und den daneben, falls Sie in einer Beziehung leben. Dort steht, wie lange Sie noch mit ihrem Partner zusammen bleiben werden, wie lange die Beziehung halten wird. Und falls dort kein Datum angegeben ist, haben Sie Glück gehabt: Ihre Partnerschaft wird ewig andauern. Okay: Das ist kitschig und unrealistisch, und natürlich stimmt das alles nicht. Aber man könnte sich, wenn es denn so einfach wäre, auf ein Ende einstellen. Man wäre darauf vorbereitet, und es würde so etwas wie Sicherheit geben.

Mindestens haltbar bis: 7. Juli 2005. 10 Uhr 21.