19.07.09

Till Frommann

Die metaphysische Bedeutung von Chucks oder Neues aus meinem Privatleben

Die besten Schuhe, um sich den Verfall des eigenen Körpers zu verdeutlichen, sind Chucks, denn Chucks verfallen schnell. Ein, zwei, vielleicht drei Monate – und schon sind diese Stoffschuhe durchlöchert, das Plastik ist aufgeplatzt, und man sieht jeden Dreck, der daran hängen geblieben ist. Und es bleibt wirklich viel Dreck an Chucks hängen.


Ich steige nach zwanzig Uhr in einen Bus ein, und ich weiß, dass ich jetzt eine gültige Fahrkarte vorzeigen müsste – denn so ist das halt nach zwanzig Uhr. Ich habe dazu im Moment aber überhaupt keine Lust.

»Muss ich Ihnen jetzt wirklich eine gültige Fahrkarte vorzeigen?«, frage ich den Busfahrer. Der zu grinsen anfängt. »Eigentlich«, sagt er, »ist mir das egal. Wenn Sie ein Kontrolleur erwischt, sind Sie selbst Schuld.« Doch jetzt, wo ich ihn darauf angesprochen hätte, müsste ich ihm schon irgend etwas zeigen. »Irgendwas?«, frage ich und krame mein Portmonee aus meiner Umhängetasche hervor.

Ich blättere mich durch diverse Dokumente, die ich mit mir herumschleppe, unter anderem ein gültiger Fahrausweis. Doch das wäre mir jetzt eindeutig zu langweilig. Ich entdecke mein Bonusheft für Zahnarztbesuche und präsentiere es dem Busfahrer. »Das«, erkläre ich ihm, »ist mein Bonusheft für Zahnarztbesuche.«

Und der Busfahrer? Grinst weiter und winkt mich durch.

Ich schlurfe mit meinen braunen Chucks durch den Bus und setze mich in die hintere Reihe, denn dort sitzt es sich immer am besten.


Jeder ist ersetzbar. Als meine schwarzen Chucks unansehnlich geworden waren, die mich eine miese Zeit meines Lebens und die letzten Monate einer schrecklichen Beziehung begleitet hatten, mussten sie ausgetauscht werden. Jetzt trage ich braune Chucks, was für ein neues Lebensgefühl. Alles ist ersetzbar – und Schuhe sowieso.


Bei einem Rolltreppenmassakar wurden meine schwarzen Chucks aufgeschlitzt. Zuerst hatte ich mich gewundert, was das für ein seltsames Geräusch gewesen sein könnte, aber dann hatte ich den Anblick ertragen müssen: Die Seite eines Stoffschuhs war gewaltsam von einer befeindeten Metallseite der Rolltreppe aufgeschlitzt worden.

Nicht schlimm, dachte ich, damit kann ich immer noch ein paar Monate rumrennen. Je abgenutzter Chucks aussehen, desto mehr sieht man ihnen an, dass sie etwas erlebt haben. Dass ihr Besitzer etwas erlebt haben könnte.

Manchmal sind Konjunktive jedoch wahrer als die vermeintliche Wirklichkeit.


Oft wissen wir doch auch gar nicht, was wir überhaupt wollen. Denn wenn die Menschen das wüssten, würden sie zum Beispiel nie eine so verdammt lange Zeit in lieblosen Beziehungen verbringen, sondern sie längst beendet haben und nicht warten, bis sich die Dinge von allein erledigen.


Die vergangenen Monate sind für mich herzerwärmend, herzerkaltend, tragikomisch und dann auch wieder irgendwie amüsant gewesen. So viel habe ich in, sagen wir, zweieinhalb Jahren Langeweile nicht erlebt. Leider kann ich nicht über alles berichten. Eigentlich über so gut wie gar nichts.


Wenn man ein Leben lang dasselbe Paar Chucks tragen würde – wie würde das dann aussehen? 97 Jahre alte Stoffschuhe! Zerrupfte, löchrige Fetzen, kaum noch als Schuhe zu erkennnen. Manchmal möchte man sich von Erinnerungen trennen, und deshalb sollte man solche modischen Erinnerungsspeichermedien auch alle paar Monate entsorgen. Schuhe weg, Erinnerungen weg, so einfach ist das.


Wir zappen uns von einer Episode unseres Lebens zur nächsten, und dann geht es schon mit der nächsten Erinnerung weiter. Und dazwischen Markenprodukte.


Coca-Cola.

Haribo.

Jamba.

Ritter Sport.

Tchibo.

Wrigley's Spearmint.

BMW.

Oder doch nur Opel.


Keine Zeit, um durchzuatmen. Wir leben in schnelllebigen Zeiten. Auch wichtige Erinnerungen entstehen immer schneller und stellen sich danach als doch nur unwichtig heraus.

Unterbrochen durch Werbeblöcke mit Klingeltönen.


Wir sind hier doch nicht bei MTV.


Doch, sind wir wohl.


Bei einem Praktikum vor ein paar Jahren hatte mich eine Kollegin sehr beeindruckt, weil sie im Büro Chucks getragen hatte. Das sah sehr jugendlich aus. Dynamisch. Was man halt in einer Leistungsgesellschaft wie dieser sein müsste.

Wer Chucks trägt, bleibt jugendlich.

Oder ab welchem Alter wird es peinlich, Chucks zu tragen? Wann wird klar, dass man mit dieser Schuhwahl nur zu kaschieren versucht, dass man älter wird?


Ich sitze im Büro, und ich erhalte einen Anruf. »Die Verbindung ist sehr schlecht, ich fahre gerade durch einen Tunnel«, lüge ich sehr unüberzeugend. »Aber ich habe doch Ihre Festnetznummer angerufen?«, fragt mich mein Gesprächspartner.

Ich lege kommentarlos auf.


Wieder im Büro. Eine Kollegin ruft mich an. »Und wie geht's?«, beginne ich ein belangloses Gespräch. »Gut, ich fahre morgen für zwei Wochen in den Urlaub«, sagt sie. So gut informiert wollte ich überhaupt nicht sein. Nicht, dass ich neidisch sein würde.

Und wieder lege ich kommentarlos auf.


Ein Büro gibt es für mich im Moment nicht mehr, die Sparmaßnahmen haben mich wegrationalisiert. Endlich habe ich Zeit, um in diesen schnelllebigen Zeiten durchatmen zu können.


Bei meinen braunen Chucks ist das Plastik aufgeplatzt, der Stoff ist durchlöchert. Die Schuhe sind schon sehr dreckig, das kann man sich nicht mehr schön reden. Je abgenutzter Chucks aussehen, desto mehr sieht man ihnen an, dass sie etwas erlebt haben. Dass ihr Besitzer etwas erlebt haben könnte.