23.08.09

Till Frommann

Esra und ich

Das Computerprogramm teilt mir mit, dass sich 267 Probleme auf meinem Betriebssystem befinden, und es bietet mir an, diese Probleme zu entfernen. Warum eigentlich nicht? Spricht doch nichts dagegen.

Eigentlich müsste es solch ein Programm auch für das gesamte Leben geben. »Ihr Privatleben weist 7136 Probleme auf«, würde mir solch eine Software dann sagen, »und von ihrer beruflichen Karriere wollen wir gar nicht erst sprechen. Ein Witz ist das nämlich, aber kein besonders lustiger.«

Und dann müsste ich mit der Software Esra, Version 3.1 diskutieren, bevor sie mein Leben wieder in die Gänge bringt, und dann müsste ich mein gesamtes Privatleben vor ihr ausrollen, und dann müsste ich von meinen verhunzten Affären, meinen gescheiterten Beziehungen und von meinen ach so tiefen Narben auf meiner Seele erzählen, und dann müsste ich auch noch meine vermeintliche Karriere reflektieren. Und dann würde Esra sich korrigieren müssen. »Da habe ich mich wohl verzählt und ein, zwei kleine Miseren in Ihrem Leben übersehen«, würde sie sich wohlerzogen entschuldigen.

Ich erzählte Esra alle Probleme meines Leben, Esra hingegen erzählte mir nichts. Sie hatte schlechte Erfahrungen mit Vertrauen und Nähe gemacht, da war Verschwiegenheit nur verständlich.

Manchmal wache ich morgens auf, und die erste Frage, die ich im Halbschlaf an mich stelle, ist die Frage, wie es mir geht und dass ich das auf einer Skala von eins bis zehn einschätzen möge, wobei eins für »ganz, ganz mies gelaunt« steht und zehn für »himmelhoch jauchzend«. Nach dieser kurzen Einschätzung im Halbschlaf drehe ich mich meistens frustriert auf die Seite und versuche, wieder einzuschlafen, wenigstens solange, bis der Wecker erneut versucht, mich zurück in den Alltag zu scheuchen.

Als ich Esra davon erzähle, nickt sie mir verständnisvoll zu, aber sie sagt nichts zu diesem Verhalten. Was, verdammt, soll sie auch dazu sagen? Sie ist doch bloß ein Computerprogramm.

Und dann komme ich mir selbst wieder einmal mit Moral in die Quere: Was darf man überhaupt in der Öffentlichkeit erzählen? Denn ich habe die Befürchtung, dass Esra gar nicht so unschuldig ist, wie sie tut und alles ausplaudern könnte, alle meine Geheimnisse, die ich ausplaudere.

Und wenn ich Geschichten über mich erzähle, denke ich mir, kommen darin doch auch andere Menschen vor – und deren Privatsphäre würde ich dann verletzen. Dabei wären es lustige, wirklich wahre Geschichten. Mit verdammt witzigen Pointen, die mir niemand glauben würde, weil sie so surreal daher kommen. Einige Geschichten würden auf meine Kosten gehen, andere auf die meiner Mitmenschen, das ist doch nur ausgleichende Gerechtigkeit. Oder nicht?

Und wie lang ist eigentlich die Inkubationszeit von Witzen? Ab wann darf man reale Begebenheiten zum Besten geben, die nicht immer die beste Seite der betreffenden Mitmenschen enthüllen? Ich grüble, und dann komme ich zum Ergebnis. Niemals, denke ich stark moralgetränkt. Leider. Es wären doch so schöne Anekdoten.

Überhaupt ärgere ich mich über meine Moral: Hätte ich weniger davon, würde ich weniger grübeln und wäre bestimmt längst berühmt – und das hoffentlich im positiven Sinn.

Ich rede und rede und rede, und Esra hört mir zu, und ich erzähle ihr alles. Denn ich vertraue ihr. Sie hat inzwischen alle Probleme meines Lebens erfolgreich beseitigt, und jetzt suhle ich mich in Perfektion.