24.10.03

Till Frommann

Über Schlitze und Schlagzeilen

Ich bin zeitungssüchtig. Ich war ein regelrechter Vielleser, und ja, ich gestehe: das bin ich traurigerweise noch immer, es hat sich leider nichts an meiner ausweglosen Lage geändert. Etliche Nachrichtenseiten im Internet besuche ich mehr als oft, und zwei Tageszeitungen – ein überregionales Blatt, das ich abonniert habe und eines, das ich mir vor lauter Sucht zusätzlich kaufen muss, konsumiere ich. Hin und wieder hatte ich sogar zwei Zeitungen abonniert, und mein Briefkasten stöhnte vor so viel Ballast, die er dank meiner Überdosis zugesteckt bekommen hatte.

Ohne die überregionale Zeitung kann ich auch gar nicht mehr leben, ich würde regelrecht nervös werden, zu zittern anfangen und vielleicht sogar damit beginnen, vor Verzweiflung die Verpackungen von Lebensmitteln oder Shampooflaschen durchzulesen – Entzug kann schon schlimme Erscheinungen nach sich ziehen, und ohne fremde Hilfe kann ich mich aus diesem Sumpf aus Buchstabenbrei garantiert nicht mehr herausziehen. Als ich einmal den Versuch eines Zeitungszölibats unternahm, hatte ich nach 24 Stunden abbrechen müssen – es ging nicht anders. Bislang habe ich jedoch noch keine Selbsthilfegruppe für Buchstabensüchtige gefunden, und das wahrscheinlich allein aus dem Grund, dass die Druckerschwärzeabhängigen nicht ins Gespräch kommen, sondern sich Zeitungsartikel vorlesen – ihrer Ansicht nach spannende Texte, höchstwahrscheinlich jedoch nichts anderes als das Gebrabbel und Gebrubbel irgendwelcher neunmalkluger Zeilenfüller.

Früher waren die Zeitungen auf Grund diverser Anzeigen so umfangreich, dass sich zwei schwere Muskeljungs an jeweils einer Zeitung abmühen und diese in den Briefkasten hieven mussten – unter allem Aufwand ihrer übermännlichen Kräfte. Nur die Stärksten, Kräftigsten und Ausdauerndsten konnten noch vor kurzem Zeitungsausträger werden. Diese Zeiten der Dunkelheit sind Gott sei Dank vorbei. Heutzutage sind Zeitungen dank Wirtschaftskrise so stark eingeschrumpft, dass man sie in früheren Epochen für Flugblätter gehalten haben mochte. Heutzutage könnte jede Bohnenstange, jeder Minimalmuskelmensch, Zeitungsausträger werden. Ja, sogar ich könnte das machen, wenn ich denn wollte.

Früher, in diesen schlimmen Zeiten sperriger Printprodukte, war es eine unglaublich dumme Idee von mir gewesen, eine Zeitung zu abonnieren – ich hatte mir damit ein überdimensional großes Problem ins Haus geholt. Und das gerade am Samstag. Denn besonders die Samstagsausgaben waren mit ihren meterdicken, sich über dutzende Seiten erstreckenden Anzeigenteilen so unverschämt dick, dass sie nur mit größter Not in meinen allzu kleinen Briefkasten passten. Die beiden Zeitungsausträger, die sich mit dem Printerzeugnis Tag für Tag abmühten, kann ich wirklich nur bedauern, sie werden kein leichtes Spiel gehabt haben.

Das Schlimmste daran war, dass sich meine ach so geliebten muskulösen, bauarbeitergleichen Zeitungsausträger, die auf Grund ihres Jobs aussahen wie Arnold Schwarzenegger, meistens auch nicht besonders viel Mühe mit ihrem Job gegeben hatten. Gerüchten zufolge und am Rande bemerkt soll sich Schwarzenegger übrigens auch nur deshalb seine Muskelberge antrainiert haben, um seinem Traumberuf, dem Zeitungsaustragen, nachgehen zu können. Ich möchte den Beruf des Zeitungsausträgers nicht in Verruf bringen – zumindest meine Zeitungsausträger waren jedoch recht schlampig, was ihre Arbeit anbelangte, quetschten sie die Lektüre doch meist nur halb in den Schlitz, so dass die Zeitung schrecklich weit heraushing, und besonders dann, wenn ich zwei Zeitungen abonniert haben sollte, schaffte es meist nur eine in die schützende Dunkelheit meines Briefkastens.

Und da hing sie nun also, die Zeitung, und starrte den Passanten hinterher, die an ihr vorbeispazieren.

»Hallo«, mag sie ihnen sogar manchmal aus Langeweile nachgerufen haben, »ich bin eine kostenlose Zeitung. Sie können mich ruhig mitnehmen. Wirklich.« Und manche Passanten werden sich von der Zeitung angesprochen gefühlt haben, denn morgens, wenn ich aufwachte, fehlte sie. Und was für Überzeugungsarbeit die Zeitung manchmal geleistet haben musste, wenn sie den Passanten dick und drall entgegenhing. Lippenstift vielleicht? Reizwäsche?

Zum Glück sind diese finsteren Zeiten vorbei – endlich hat sich die Größe der Zeitungen der wirtlichen Lage meines Printerzeugnisauffangbeckens angepasst. Was nicht passte, wurde passend gemacht, und hoffentlich wird sich in nächster Zeit auch nichts daran ändern – zur Freude der Zeitungsausträger dieser Welt.