24.11.06

Till Frommann

Über die Wahrheit, den Ich-Journalismus und den ganzen Rest

»When the truth dies
Very bad things happen
They're being heartless again«
Robbie Williams

Der Ich-Journalismus ist tot. In Zeitungsartikeln ist es verpönt, »ich« zu schreiben. Oder unvollständige Sätze. Gut, in Kolumnen wird es einem mitunter noch erlaubt, aber das war es dann auch. Denn nicht nur der Ich-Journalismus ist tot, mit ihm hat sich gleichzeitig das Ich aus der Zeitung verabschiedet – wenn man, jaja, von Kolumnen und Glossen absieht. Aber wer liest sowas schon?
Es ist August 2002. In der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« schreibt Georg Diez mit dem Artikel »Die Ich-Krise« einen Nachruf auf den »Pop-Journalismus«, den »Ich-Journalismus«, den »Gonzo-Journalismus« und auch auf den »New Journalism« – alles artverwandte Schreibstile, dessen vermeintliches Sterben Diez damit begründet, dass auf Grund der Wirtschaftskrise gerade dieser literarisierte Journalismus eingespart worden sei, so zum Beispiel die »Berliner Seiten« der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder das Jugendmagazin »jetzt« der Süddeutschen Zeitung.
»Subjektivität, Krawall, Ironie, Oberflächlichkeit, Geschichtsvergessenheit, Seriositätsdefizit: All das, was mit dem Wort Pop gemeint war, soll nun vorbei sein«, schreibt er. Über Hunter S. Thompson heißt es in dem Artikel: »Sein Leben ist Schmerz, sein Tun Literatur. In seinen Geschichten geraten die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf bedrohliche Weise durcheinander. Der Mann ist ein Veteran und ein Wrack und ein Vorbild – ohne Hunter S. Thompson im Gepäck hätte Deutschland nie den Versuch erlebt, einen anderen Journalismus zu bekommen als den, den es verdient.«
Alle guten Menschen sind tot: 2005 beging Hunter S. Thompson Selbstmord, er war der Erfinder des sogenannten »Gonzo-Journalismus«, einer Weiterführung des »New Journalism« in die Fiktion. Seine bekannteste Reportage, »Fear and Loathing in Las Vegas«, wurde als Roman veröffentlicht. Darin sollte es eigentlich um ein Autorennen in der Wüste von Nevada gehen, Thompson schrieb aber fast die gesamte Zeit über sich selbst. Das Ich war wichtig – und die Drogen, die es dabei konsumiert hatte. »Die Vermischung aus Fakten und Fiktionen war aber auch die Krux in Thompsons Leben und Werk«, schrieb der Tagesspiegel in seinem Nachruf auf Thompson. »Wo hört die Inszenierung auf? Wenn er auf der Höhe war, tippte er wie besessen, die Zeilen wurden zum Trip.«
Ein anderer Journalismus war das! So, wie es der von der Zeitschrift »Tempo« gewesen ist, die von 1986 bis 1996 erschien und deren Macher, »dem Journalismus einen anderen Ton, eine andere Härte, eine andere Wahrheit geben wollten«, wie Diez in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« weiter schrieb. Die »Tempo« hielt jedes Thema für gleich wichtig: Ob nun Dinge, die die Journalisten selbst interessierte und welche an und für sich keine kulturelle Relevanz besaßen oder Interviews mit wichtigen Politikern – alles war wichtig und unwichtig zugleich.

Und Wahrheit! Was zur Hölle ist das eigentlich? Objektivitität ist totaler Unsinn, nur mit Subjektivität kann man die Wirklichkeit vollständig abbilden, jawohl. So, wie es die Zeitschrift »Tempo« gemacht hatte. Journalismus plus Literatur gleich Wahrheit, so einfach ist das nämlich.
»Tempo«-Gründer Markus Peichl sagte 2000 rückblickend in einem »Zeit«-Interview: »Wir waren zu Anfang der achtziger Jahre mit Zeitschriften konfrontiert, die den Anspruch auf Faktizität, Objektivität und Wahrheit erhoben haben, ohne ihm im Geringsten gerecht zu werden.« Und weiter: »Sie haben damit ein Klima erzeugt, wo das Faktische nicht mehr faktisch war, sondern nur noch arrogant, überheblich und unwahr. Wir wollten diesem überkommenen und verlogenen Objektivitätsjournalimus eine ehrliche Form von Subjektivität entgegensetzen. Wo der Autor, der Fotograf, der Gestalter sagt, ich setze mich bewusst der Wirklichkeit aus, aber ich beschreibe sie, wie ich sie empfinde. Wo also von vornherein offen gelegt wird, man kann Realität nicht eins zu eins abbilden, sondern in dem Moment, wo ich sie in einem Medium beschreibe, schaffe ich eine Fiktion, neue Realität. Das ist ein Ansatz, der weder unmoralisch noch bekämpfenswert ist. Es kann ja nicht sein, dass Schreiber sich nur der Wahrheit und nicht auch einer Ästhetik verpflichtet fühlen dürfen.«
Weg also mit diesem gottverdammten, überheblichen, arroganten Journalismus! Die haben nämlich nicht die Wahrheit für sich gepachtet, ganz im Gegenteil, Objektivität, ha, dass ich nicht lache. Und wenn ihre Berichte noch so sachlich wirkten: Es waren doch nur die Ansichten eines Einzelnen, es war ihre eigene, ganz persönliche Auswahl aus ihrer kleinen, mickrigen Welt. Jeder noch so objektive Text ist durch eine subjektive Auswahl von Gesprächspartnern, Informationen und Was-weiß-ich-noch-was entstanden – also in Wirklichkeit (haha!) vollkommen subjektiv.
Und schon gar nicht sind Journalisten in der Lage, die Wahrheit, die Wirklichkeit zu erkennen und aufzuschreiben – schon gar nicht diese Schreiberlinge! Eigentlich ist es ihre Aufgabe, dem Leser einen Sachverhalt zu vermitteln, und zwar so, dass sich diese Schilderung nahe an der Wahrheit orientiert. Aber schaffen sie das? Kein Wunder also, was für einen schlechten Ruf Journalisten haben. So vermerkt zum Beispiel Ambrose Bierce in »Des Teufels Wörterbuch« unter dem Eintrag »Reporter, der«: »Schreiber, der den Weg zur Wahrheit errät und diese mit einem Wortunwetter verjagt.«
Aber was ist das schon – Wahrheit?
Eine Lösungsmöglichkeit bietet der sogenannte »New Journalism«, der Journalismus mit Literatur verknüpfte. Diese Art des Journalismus war gegen die etablierte Form, also die Trennung von Meinung und Nachricht, gegen das formelhafte Abhaken der Wer?-Was?-Wo?-Wann?-Warum?-Fragen, mit deren Abarbeiten ein Sachverhalt möglichst objektiv dargestellt werden sollte. Die Vertreter des »New Journalism« wollten mit Sprache experimentieren, sie sollte eine zentrale Bedeutung bekommen – innerer Dialog wie in der Literatur nun einmal auch, Lautmalerei, ein szenischer Aufbau. Flüche. Schimpfwörter. Wenn man »scheiße« meinte, sollte man auch »scheiße« schreiben dürfen. Damit das klar ist.

Die Gründer dieser neuen Schreibform im Journalismus sind Jimmy Breslin, Gay Talese und Tom Wolfe; zeitlich datieren lässt sich das Aufkeimen des »New Journalism« auf den Anfang der sechziger Jahre. Vorbilder für sie waren unter anderem Mark Twain, Daniel Defoe, Charles Dickens und Ernest Hemingway, weil diese ebenfalls versucht hatten, ihre zeitgenössische Gesellschaft mit sprachlich-literarischen Mitteln darzustellen. Und: Den Vertretern des »New Journalism« war es egal, aus welcher Epoche ihre Vorbilder stammten, die Hauptsache war, dass sie es verstanden, mit literarischen Mitteln ihren Zeitgeist einzufangen.
Emotion ist wichtig, der subjektive Eindruck ist wichtig, die Personen hinter der Geschichte sind wichtig. Anstelle dessen, einen Sachverhalt objektiv darstellen zu wollen, wird beispielsweise personalisiert: Betroffene Personen werden interviewt, werden zu regelrechten Hauptpersonen der Reportage, unter Umständen ist es sogar der Journalist selbst, der sich ganz egozentrisch zur Hauptperson hochstilisiert, hin und wieder unternahmen die Journalisten auch Selbstversuche, setzten sich Extremsituationen aus und schrieben darüber.
Also: Das Ich wird wichtig, die Fakten werden dadurch angereichert. Objektivität ist für diese Journalisten nicht das ideale Werkzeug, um die Wahrheit der Welt abzubilden, da Gefühle nun einmal ebenfalls Bestandteil dieser Welt sind. Wahrheit wird nicht daran gemessen, worüber ausgesagt wird, sondern wie und von wem darüber etwas gesagt wird.

Doch dann begannen die Lügen. Die Ästhetik, das Gefühl, kurz: die Stimmung eines Textes trat immer mehr in den Vordergrund, die Wahrheit hingegen litt. Mit Wortunwettern verjagten die Journalisten die Wahrheit, was auch immer das sein mag.
Ein Problem dieses subjektiven, literarisierten Schreibstils war es nämlich, dass er übertrieben wurde – die Literarisierung nahm überhand, die Fiktion wurde immer stärker, und die Fakten kamen auf einmal verlogen daher. Nichts, aber auch gar nichts schien mehr zu stimmen.
Es ist Mai 2000, und es ist die Zeit eines der größten Medienskandale der vergangenen Jahre. Tom Kummer ist einer der Hauptschuldigen dafür, dass Georg Diez zwei Jahre später über den vermeintlichen Tod des Pop-Journalismus schreibt, denn wegen Kummer kam dieser Journalismusstil in Verruf.
Kummer begann seine journalistische Laufbahn ebenfalls bei der Zeitschrift »Tempo«. Um sich wieder einmal für die Misere, die er verursacht hatte, zu rechtfertigen, räumte ihm »Cover«, das Medienmagazin des Instituts für Journalistik und Kommunikationswissenschaft in Hamburg, 2005 ein paar Seiten ein. Dort schrieb er: »Wir sind in die vom Schein beherrschte Welt der Postmoderne hineingeboren worden, deren bestimmendes Element die Show ist. In der Show gibt es keine Wahrheit, sondern Effekte. Je brillanter die Show ist, umso überzeugender ist sie gelungen und desto begeisterter werden die Leser- und Zuschauermassen sein.«
Wenn man weiß, was Kummer angerichtet hat, klingt dies seltsam, so, als wenn er sein Vergehen noch immer nicht eingesehen hätte – er hatte dem Magazin der »Süddeutschen Zeitung« und anderen Medien wie dem »Spiegel«, dem »Stern«, der »Zeit«, der »NZZ« und der »FAZ« Interviews mit Hollywood-Stars verkauft, die er allesamt mehr oder weniger gefälscht hatte, welche er also entweder nie wirklich geführt und aus Collagen anderer Interviews zusammengesetzt oder einfach mit ausgedachten Zitaten angereichert hatte; er selbst spricht davon, dass er »Interviews mit Stars teilweise inszeniert« habe. Die Chefredakteure des SZ-Magazins verloren wegen Kummer ihren Arbeitsplatz.
Kummer schreibt weiter: »Meine journalistische Erfahrung war immer die, dass mit dem Auftauchen von Journalisten die Wirklichkeit implodiert. Ich habe das immer wieder gesehen, ob in der Wartestellung auf den ersten Golfkrieg im Intercontinental-Hotel von Amman, wo die Wirklichkeit von isolierten Journalisten choreographiert wurde. Oder in den Armenvierteln von Lima, wo ich für ›Tempo‹ über die Auswirkungen von Cholera recherchiert habe und die Familien beim Auftauchen meiner Fotografin ihre Hütten zu säubern begannen und sich frische Kleider anzogen und lächelten und lächelten und lächelten.« Kummer zieht das Fazit: ›Objektivität ist genauso wie Wahrheit und Wirklichkeit in den Medien ein reiner Mythos. Ich finde, Journalismus kann nur dann Vertrauen zurückgewinnen, wenn die Macher ihren Lesern gegenüber ganz offen zugeben, dass es beim Informationsauftrag, neben der reinen Informationsbeschaffung, um total differierende Wirklichkeitsentwürfe geht.‹ Und: ›Es ist wirklich nicht mehr leicht, Journalist zu sein. Eine Armada von Authentizisten klebt einem im Nacken und fordert Wahrheit, die einzige wahrhaftige Wirklichkeit. Ich weiß wirklich nicht, ob man es immer noch erwähnen muss: Die Wirklichkeit besteht nicht bloß aus Nachrichten und Fakten, sondern auch aus Emotionen, Erregung, Abstraktion, Fantasie, Ästhetik, Psychedelik, Unerklärbarem, Einsamkeit, Unsicherheit und vielem mehr.‹
Nach einem inoffiziellen Schreibverbot durfte Kummer seit Sommer 2003 wieder für Zeitungen und Zeitschriften schreiben – jedenfalls kurzzeitig. Kurz, nachdem seine Stellungnahme in »Cover« erschien, stellte man jedoch fest, dass es Kummer erneut nicht sehr genau mit der Wahrheit genommen hatte: Der ›Berliner Zeitung‹ hatte er eine bereits mehrfach veröffentlichte Reportage als neu verkauft. Er hatte diesmal zwar nicht gefälscht, hatte der Zeitung jedoch, ohne die verantwortlichen Redakteure zu informieren, einen Artikel angedreht, der bereits in Teilen 1998 in der ›NZZ‹, sowie 1999 im Magazin der ›Süddeutschen Zeitung‹ erschienen war. Die Krux an diesem Sachverhalt: Die Protagonisten, die er für diesen Artikel interviewt hatte, waren während der Jahre der Erst-, Zweit- und Drittverwertung nicht gealtert – Kummer hatte nicht einmal deren Alter angepasst.
In ›Cover‹ schreibt er: »Ob ich jetzt immer die Wahrheit schreibe? Nein, die reine Wahrheit interessiert mich nur am Rande. Natürlich müssen die Fakten stimmen, und das war bei mir fast immer der Fall. Hinter der so genannten Wahrheit tun sich aber meistens Abgründe auf. So ist das Leben. Davon sollen die Leser erfahren.«
Zurück zum August 2002, zurück zu Diez' Todeserklärung des Ich-Journalismus. Er schreibt weiter: »Was wäre denn die große Gefahr, wenn das journalistische Schreiben in Deutschland literarischer würde, individueller, kühler, origineller, subjektiver, so wie das in anderen Ländern der Fall ist? Was wäre denn das Furchtbare daran, wenn das Wahrheitsmonopol, das die Medien selbst dauernd durchlöchern und doch fast panisch weiter behaupten, auf ehrliche Weise gebrochen würde? Was wäre denn so schlimm, die Widersprüche auszuhalten, in denen das Leben zur Zeit eben stattfindet?«
Ein anderer guter Mensch ist tot: 2003 starb der Journalist Herbert Riehl-Heyse, dessen Schreibstil in der »Süddeutschen Zeitung« folgendermaßen beschrieben wurde: »Er entwickelte eine neue Art zu schreiben. Er versuchte nicht zu verbergen, dass es objektives Schreiben gar nicht gibt. Im Gegenteil: Er stellte sich selbst, 'den Reporter', mit seiner Subjektivität in die Geschichten – eine Methode, die die Medienforscher später ›Objektivität durch Subjektivierung‹ nannten.«
Außerdem sei es immer so gewesen, wenn man ihn gelesen hatte, »als würde er uns für einen kurzen Moment die Schleier des Scheins von seinem Gegenstand herunterreißen, damit wir, die Leser, selber nachsehen können, wie die Wirklichkeit und die Wahrheit möglicherweise aussieht.« Weil Riehl-Heyse sich nun selbst mit in die Artikel als beobachtendes Ich hineinschrieb, verdeutlichte er, dass es für ihn keine Objektivität in diesem Sinne gab, sondern dass er, der Beobachter, immer und überall von seinen eigenen Einschätzungen befangen war. Ein solcher Text, der »Objektivität durch Subjektivierung« herzustellen versucht, wird den Leser dadurch aber meines Erachtens zu einer besseren, eigenen Meinung vom dargelegten Sachverhalt führen, da er so immer bewusst gemacht bekommt, dass der Autor selbst eine Objektivität nicht für möglich hält und ihm so die Möglichkeit gibt, sich seine eigene Meinung zu bilden.
Und anscheinend ist es im Nachhinein nicht ganz so schlimm gekommen, wie Diez den Teufel an die Wand gemalt hatte: Demnächst wird eine neue Ausgabe der Zeitschrift »Tempo« erscheinen. Vielleicht nur dieses eine Heft, vielleicht werden es ein paar Ausgaben mehr werden. Was weiß ich denn. Der Ich-Journalismus ist tot? Lang lebe der Ich-Journalismus!