28.04.07

Till Frommann

Aus dem Leben eines Habenichts

Diesen Text habe ich für den Essaywettbewerb »Macht Freiheit einsam?« von jetzt.de geschrieben. Die Gewinner stehen fest, ich bin nun nicht mehr arbeitslos, aber gewonnen habe ich trotzdem nicht. An der Qualität des Textes kann es, natürlich, nicht gelegen haben.

Neulich in der Innenstadt einer mittelkleinen deutschen Großstadt: Zwei Punks (inklusive gefärbter Haare und »NO FUTURE!«-Buttons an ihren schmierigen Lederjacken) schnorren mich an. Nicht so schlimm, finde ich: Ich nerve das Arbeitsamt, um über die Runden zu kommen, sie betteln unbescholtene Passanten an. Kein Problem also, denn jeder hat die Freiheit, sich sein Geld so zu beschaffen, wie er es am Besten kann. Und jeder muss mit den Komplikationen leben, die, sagen wir, ein Banküberfall mit sich bringt. Problematischer hingegen war, dass diese werten zwei Herren mein Weltbild zerstören sollten. »Erst wenn du alles verloren hast«, sagt Tyler Durden im Roman »Fight Club« von Chuck Palahniuk, »hast du die Freiheit, alles zu tun, was du willst.« Müssen wir also alle Siddhartas des 21. Jahrhunderts werden, um in dieser Welt frei zu sein?

Punks (also echte, gestandene Punks und nicht diese verweichlichten Gymnasiasten, die noch bei ihren Eltern wohnen und sich die Ohren, den Bauchnabel und Was-weiß-ich-noch-was piercen und die Haare rot, gelb und grün färben, um sich cool zu fühlen) haben alles verloren und aufgegeben und deshalb die Freiheit, alles zu tun, was sie wollen. Bis jetzt lebte ich in Frieden mit dieser Überzeugung. Mit ihren »NO FUTURE«-Buttons, dachte ich, würden sie das betonen wollen – nämlich, dass ihnen die Zukunft egal ist, weil sie eh keine hätten. Dass sie diese geopfert haben, um die Freiheit der Gegenwart genießen zu können.

Ich gebe Euch kein Geld, sagte ich schließlich zu den zwei Punks, welche das Gymnasiastenalter sichtlich hinter sich gelassen hatten, ich habe selbst nichts, ich bin Hartz-IV-Empfänger. Punk Nummer Eins war schwer verwundert. »Warum hast du keinen Job?«, fragte er mich, woraufhin ich zu dozieren anfing, wie schlimm doch alles sei und in was für einer verlogenen und nutznießerischen Welt wir lebten. Ich redete mich in Rage. Schimpfte über alles und jeden. Schnappte nach Luft und fühlte mein Herz hämmern. Redete weiter. Schrie. Das System sei Schuld, dass ich keine Festanstellung bekommen würde. Dann beruhigte ich mich wieder.

»Und?«, fragte ich im Plauderton. »Was wollt ihr später beruflich werden?« Punk Nummer Zwei antwortete ohne zu überlegen, dass er Tierpfleger werden wolle. Dass das sein Traumberuf sei und er in diesem Bereich auch jobben würde.

Was mein Weltbild zerstörte und meine gesamten Vorurteile über Punks ruinierte, war die offensichtliche Zukunftsangst, die den tierpflegenden Punk umtrieb. Er hatte Angst, weiterhin arbeitslos zu bleiben, nebenbei als Tierpflegeraushilfe zu jobben und, jaja, genauso wie ich Arbeitslosengeld zu beziehen. Die »NO FUTURE«-Buttons – nur Fassade!

Seit knapp einem Jahr bin ich nun frei. Ich ärgere mich mit dem Arbeitsamt herum, mit dem Bürokratiechaos dieses Beamtenbunkers. Ich habe jetzt die Freiheit, Bewerbungen zu schreiben, und Firmen haben die Freiheit, mich abzulehnen. Ich habe die Freiheit, das Arbeitsamt anzubetteln, meine Unterlagen nicht zu verschusseln. Diese Freiheit zermürbt und macht mit jeder Ablehnung, die ich erhalte, noch mehr Angst, und jede Zusage, doch noch bitteschön ein Praktikum bei dieser oder jener ach-wie-großzügigen Firma anzunehmen, um die Chance auf eine Festanstellung zu vergrößern, klingt nach Hohn und Spott dieser kapitalistischen Ausbeuter.

In der Unfreiheit des Studiums mit den vielen unbedeutenden Hausarbeiten, die ich schreiben musste und den langweiligen Vorlesungen, die ich besuchte und den unmotivierten Professoren und Dozenten, hatte ich wenigstens einen halbwegs geregelten Tagesablauf. Ich hatte das Ziel vor Augen, den Abschluss zu schaffen. Bis dahin: Scheine zu bekommen. Referate zu halten. Hausarbeiten zu schreiben. Ich war in Unfreiheit, aber mit mir waren andere Kommilitonen eingesperrt im Mikrokosmos Universität, und eigentlich waren wir alle relativ glücklich, weil wir beschäftigt waren.

Doch das Glück in Unfreiheit währte nicht lang – bei mir waren es 14 Semester, was, wenn man es bei Tageslicht betrachtet, dann doch nicht gerade als kurz zu bezeichnen ist. Bernd Zeller, ehemaliger Autor der Harald-Schmidt-Show, Cartoonist und Herausgeber der Satire-Zeitschrift »Pardon«, schreibt im Buch »101 Gründe nicht zu studieren«: »In der Schule wurde angeblich für das Leben gelernt. Ein solcher Anschein lässt sich beim Studium nicht erzeugen.« Das funktioniere jetzt nämlich nicht mehr, da nun der Abschluss das Ziel sei. »Die aufgestaute Sinnfrage rächt sich nun in Form der tiefen Depression, der sich die Lebenseinstellung anpasst. Akut wie nie wäre die Frage: Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich? – Egal: ich bin, komme und gehe, das muss reichen. So geht die Enddepression nahtlos über in die Midlife-Crisis.«

Die neu erworbene »Freiheit« der Arbeitslosigkeit nimmt einem den mehr oder weniger geordneten Tagesablauf, und den Sinn wie den eines Abschlusses gibt es auch nicht mehr – oder kann man das Schreiben von Bewerbungen mit den darauffolgenden Absagen im Briefkasten als sinnvoll bezeichnen? Nach der x-ten Absage garantiert nicht mehr. Die Punks haben sich in einer Gruppe der vermeintlich zukunftsverweigernden, aber dann doch Zukunftsangst habenden Menschen zusammengerottet, um gemeinsam einsam auf irgendeine schönere, sich kitschig ausgemalte Zukunft hoffen zu können. Und ich? Habe Freunde, die studieren, Freunde die ihr Studium bald hinter sich gebracht haben werden und Freunde, die es (wie auch immer!) geschafft haben, eine Festanstellung – natürlich nur auf Zeit – zu bekommen. Doch auch sie haben Zukunftsangst: Werden sie ihren Job behalten, oder werden sie bald schon wieder zurückgeworfen in die Arbeitslosigkeit? Denn alles ist ungewiss.

Diese Angst fühlt sich so an, als sei man unendlich einsam, weil man immer wieder an die vielen Absagen denken muss, immer wieder nur an sich, sich, sich. Weil man egoistischer wird. Weil man weniger daran denkt, dass viele andere ebenfalls in diesem Dämmerzustand zwischen Jammern und Angestelltenverhältnis stecken. Weil man immer wieder an seine eigene miese Lage denken muss. An die miesen Aussichten auf einen Beruf. Und natürlich ist die eigene Lage die schlimmste, denkt man sich. Sehr oft wünsche ich mir deshalb die vielen Unfreiheiten des Studiums zurück.

Wir alle sind gemeinsam einsam, weil wir Angst vor einer ungewissen Zukunft haben wie wahrscheinlich keine andere Generation vor uns – nichts Neues eigentlich, denn früher war natürlich schon immer alles besser: Unsere Eltern konnten eine berufliche Laufbahn meistens ohne Probleme und nahtlos an Ausbildung, Studium oder sogar mühelos als Quereinsteiger einschlagen.

Alles aufgeben also? Quatsch: Man sieht, dass auch andere in dieser Lage sind und sich deshalb gemeinsam einsam fühlt. Dass man nicht alles hinter sich lassen kann, denn auch das ist keine praktikable Lösung. Dass man sich als Erkennungszeichen einen Button mit »FUTURE!«-Schriftzug an die Jacke pinnen müsste.

Ich erkenne:
Ich bin frei.
Ich bin wie einer dieser Punks mit Zukunftsangst.
Ich bin Deutschland.
Denn ich bin arbeitslos.