28.05.03

Till Frommann

Mann im Mund

Mein Zahnarzt mag mich. Oder meine Zähne. Oder auch alles andere an mir. Eigentlich ist es ja auch vollkommen egal, weshalb er demnächst so viel Zeit mit mir verbringen will – trotzdem mache ich mir meine Gedanken darüber, denn ich würde schon ganz gerne wissen, was in solch einem Zahnarztgehirn vor sich geht.

Ich liege also auf diesem widerwärtigen Behandlungsstuhl in dieser widerwärtigen Zahnarztpraxis, und die Betäubung, die der Doktor seinem lieben Vieh, also mir, vor ein paar Minuten in den Kiefer gerammt hat, zieht langsam meine Lippe hoch, krabbelt in meinen linken Nasenflügel, und ich fühle mich, als wenn mir jemand einen spitzen Stock von meinem Mund aus direkt durch die Lippe in die Nase geschossen hätte.

Mein mich verehrender Zahnarzt setzt die Behandlung fort, und ich schließe die Augen. Ich möchte auch überhaupt nicht sehen, wie er sich über mich gebeugt an meinen Zähnen zu schaffen macht. Wie er bohrt. Schleift. Den Belag von meinen Zähnen bohnert, damit alles in neuem Glanze funkelt und glitzert.

»Jetzt den Mund bitte nicht schließen«, sagt er – und mir nichts dir nichts ist der Zahnarzt verschwunden. Ich liege also auf diesem widerwärtigen Behandlungsstuhl, und ich bin mit seiner Assistentin allein in diesem noch widerwärtigeren Behandlungsraum. Ich halte meinen Mund schon seit knapp einer Viertelstunde geöffnet, wenn nicht sogar noch länger. Langsam merke ich, wie er sich langsam schließen will, wie die Muskulatur immer schwächer und schlapper wird. Die Assistentin des Zahnarztes schlürft mit einem Sauger die Spucke aus meinem Mund, die sich dort immer wieder ansammelt. Auf den Rechnungen wird diese Leistung jedes Mal unter dem Stichwort »Starker Speichelfluss« abgerechnet – und immer, wenn ich das lese, fühle ich mich ein ganz klein wenig beleidigt. Starker Speichelfluss? Bei mir? Da muss ein Irrtum vorliegen.

Und was für Schnarch- und Blubbergeräusche dieser Schleimsauger beim Spuckeentfernen fabriziert!

Ich kann meinen Mund kaum noch aufhalten, mein gesamter Kiefer schmerzt höllisch. »Bitte jetzt nicht den Mund schließen«, ermahnt mich die Zahnarztassistentin energisch, »es geht um Leben und Tod.«

Um Leben und Tod? Ich erschrecke! Und ist es mein Leben, wird es mein Tod sein, um den es sich hier dreht? Ich spüre, wie mein Blut sich aus meinem Gesicht zurückzieht und wie ich vor Angst erblasse.

»Warum wird es hier auf einmal so kalt?«, höre ich es zwischen meine Backen hallen. »Es war doch eben gerade noch so subtropisch feucht-warm hier.«

Der Zahnarzt! In meiner Mundhöhle!

Hat auf meiner Zunge ein Handtuch ausgebreitet, um es sich dort gemütlich zu machen! Und beschwert sich, dass sich mein Blut aus dem Gesicht zurückgezogen hat und es deswegen so kalt geworden ist! Dabei müsste er doch eigentlich arbeiten. Stattdessen schlürft er einen Cocktail mit einem länglichen Strohhalm in sich hinein.

Der Urlaubsatmosphäre wegen hat mein Zahnarzt einen Sonnenschirm aufgespannt und ihn an meinem linken Nasenflügel, meiner Lippe und der Nase befestigt. In Krisenzeiten wie diesen, in denen der Rubel selbst bei Zahnärzten nicht mehr so zu rollen scheint und in denen das wohlige Wirtschaftswunder ausbleibt, muss man nach anderen Möglichkeiten suchen, um sich zu erholen, ganz so, wie sich mein Zahnarzt sein kostengünstiges Urlaubsparadies geschaffen hat.

Die Saug-, Schlürf-, Schnarch- und Blubbergeräusche kommen größtenteils auch gar nicht von dem Sauger, der meinen angeblich so starken Speichelfluss einsaugen soll – der Zahnarzt schnarcht im Schlaf!

Kurz, bevor ich davor bin, meinen Mund mit einem lauten Knall zu schließen und mich eines Mordes schuldig zu machen, steht der Zahnarzt wieder neben mir. »Das war wieder einmal sehr erholsam«, lächelt er mir entgegen, »hätten Sie nächste Woche vielleicht noch einmal Zeit?«

Er würde nämlich gerne mit seiner Frau, seinen drei Söhnen und seiner Tochter in den Urlaub fahren, und mein Mund sei seines Erachtens das ideale Ziel für diesen Familientrip. Er schaut mich mit einem bettelnden Hundeblick an und fragt mich, ob ich vierzehn Tage Zeit dafür hätte.

»Nein«, schreie ich erzürnt auf. »Ich habe keine Zeit. Nicht nächste Woche, nicht übernächste, und auch im nächsten Monat habe ich keine Termine mehr frei. Da hätten Sie schon früher buchen müssen.«

Und dann verlasse ich fluchtartig die Zahnarztpraxis. In meinem linken Nasenflügel, meiner Lippe und meinem Mund spüre ich noch ganz deutlich die Stange des Sonnenschirms, den mein Zahnarzt dort zu seinem Leidwesen vergessen hat. Er wird den Verlust verschmerzen können – aber dass sein Lieblingsurlaubsort von nun an unerreichbar für ihn ist, wird wahrscheinlich schon einen herben Verlust für ihn darstellen. Soll er doch nach Mallorca fliegen, denke ich mir. Dafür wird sein Geldbeutel schon noch dick genug sein.