»Lass uns doch nach Rügen fahren. Ist nicht so weit, können wir mit dem Auto hinfahren, wir sind am Meer und Henri kann zum ersten Mal im Sand spielen.
Wir haben doch in diesem Jahr noch nicht mal 2 Wochen Urlaub.«
Als mir im Januar 2004 dieser Vorschlag gemacht wurde, musste ich kurz darüber nachdenken, warum ich diesen Mann da eigentlich geheiratet hatte.
Unter anderem wegen seines Humors – richtig.
»Jahresurlaub im Osten. Den solltest du zur BILD schicken. Vielleicht gibts 25 Euro dafür.«
»Kein Witz!« sprachs und ging arbeiten.
Keine 25 Euro... dachts und war im Mutterschutz.
Reicht ja nicht, dass ich meine SECHS Flittertage vor 2 Jahren auf Usedom verbracht habe (»Ist nicht so weit, können wir mit dem Auto hin fahren, wir sind am Meer und du kannst im Sand spielen. Wir haben doch in diesem Jahr noch nicht mal eine Woche Urlaub.«).
Jahresurlaub im Osten. Das hat noch mehr Kraft als »Erstwohnsitz im Osten.«
Und den haben wir immerhin seit viereinhalb Jahren. Keine Frage, ich wohne sogar halb gerne hier. Das Geld, das ich im Westen verdiene, gebe ich im Osten aus, ich schätze das Ostberliner System der Hausnummerierung und sage sogar »Die kommen aus Westdeutschland.«, wenn ich von meinen Eltern spreche.
Erst lebten wir in Berlin-Friedrichshain, »bunter, pulsierender Szene-Bezirk im Ostteil der Stadt, wo Kunst und Kommerz eine spannende Mischung eingehen«, Hunde aller couleur alle 20 cm auf den Bürgersteig scheißen, 18-jährige Punks T-Shirts tragen mit der Aufschrift »Keiner ist gemeiner als der Friedrichshainer!« und wo jemand die Buchstaben AR vor die Lichtreklame vom Schlecker gesprüht hat.
Anfang diesen Jahres haben wir uns sogar nach Lichtenberg-Karlshorst osterweitert.
Ein zweifelsohne schöner, grüner Bezirk mit russischem Museum, ungefähr einer Million Datschen und Lokalen, die Soljanka als Tagessuppe anbieten. War ja nicht alles schlecht.
Jahresurlaub im Osten. Ein Satz wie ein zweistelliger Solidaritätszuschlag.
Im Internet suchte und buchte ich und entschied mich für den kapitalistischsten Flecken Erde, den Rügen zu bieten hat: Binz, das Westerland des Ostens.
Schlappe 800 Euro für ein Appartement ohne alles für schlappe 2 Wochen, Brötchenservice, Wäscheservice, Kinderbett, Endreinigung nicht inklusive – so viel Westen muss sein.
Kaum acht Monate und 4 Stunden Fahrt später folgten wir der Wegbeschreibung auf unserer Buchungsbestätigung und bogen nach dem Ortseingangsschild in die 2. Straße rechts ab:
Voilà – keine Ferienanlage mit Charme, sondern ein Aldi mit Sonntagsöffnungszeiten.
Wunderbar – ich konnte endlich anfangen, in meiner schon vor langer Zeit erdachten Urlaubs-Klassifikations-Einheit zu rechnen: »Erste Rüge!«, sprachs und brach vor Lachen zusammen. Leider allein.
Unseren Sohn weckten wir anschließend mit »VielleichtgibtesdieAppartementanlagejagarnicht!«, »SowaspassiertnurinSpanien!« und »DuwolltestjaunbedingtinderZoneUrlaubmachen!«.
Frau Burmester von der Rezeption empfing uns 20 Minuten später mit einem Salzteig-Namensschild und akuter Arbeitsplatz-Angst in der Stimme:
»Oh hallo und herzlich willkommen in unserer Vier-Sterne-Anlage. Fühlen Sie sich gleich wie zu Hause. Hoffentlich hatten Sie eine schöne Anreise! Was darf ich für Sie und Ihren zuckersüßen kleinen Fratz tun?«
Normalerweise halte ich Henri bei drohenden Formulierungen wie »Süßer Fratz«, »Wonneproppen« oder »Kleiner Mann« die Ohren zu, aber die zukünftige Miss ABM erwischte mich kalt.
Hartz IV kommt, meine Liebe.
Frau Burmester fehlte nicht nur ein i, sondern auch nach Vorauskasse der Kurtaxe leider, leider die Zeit, uns zu unserem Aparrtmoh vom Typ B mit 45 qm, Duschbad, Küchenzeile, Kabel-TV und Radio-Wecker zu bringen.
»Aber Sie und Ihr sü--------- finden das bestimmt auch ohne mich. Haus 3, Wohnung 43, Hub-Stellplatz 56! Viel Vergnügen auf Rügen!«
»Ich hätte dann gerne den zweiten mal gesehen.«
Foto von Meike Haberstock
So begann unser Jahresurlaub auf einer Insel, auf der man Haargel kaufen kann, das nach griechischer Insel klingt (Elkos), Handcremes wie Dorfdiscotheken heißen (Blue Moon) und es Kurorte gibt, die glatt als Kinderkrankheiten durchgehen würden (Sassnitz).
Nein, tut mir leid, Meike kann nicht rauskommen zum Spielen. Sie hat die Sassnitz. Aber nächste Woche geht es bestimmt wieder. Schließlich hat ihr Doktor jetzt zweimal täglich Sellin verschrieben.
Praktischerweise heißt so der Nachbarkurort und ist, eigentlich wie der Rest der Insel, BELEGT. Jeder Einwohner hat ein Auto mit einer möglichst absurden Internetadresse auf der Heckscheibe und ein Haus mit einer belegten Ferienwohnung. Eben die von der URL.
Millionen mehr oder weniger eloquent geschriebene Schildchen lachen es durch die Küchenfenster hinaus in die Welt: Seht her, wir sind BELEGT. Ätsch.
Ein Blick auf die Binzer Kurpromenade zeigt womit: Nicht mit recht, sondern mit Rentnern. Dabei ist noch Hauptsaison.
Wer Gott treffen sollte, fragt ihn bitte von mir, warum Rentner immer beige tragen, sie immer zur Feierabendzeit einkaufen und WARUM sie ausgerechnet in den Schulferien ganze Landstriche in Ostdeutschland kahl fressen?
Überhaupt wird auf Rügen ständig gegessen. Meistens Eis, Crêpes, Nordseekrabben, »Die ganze Pracht aus Thüringen«, »Früchtequark mit Früchten« oder sonstige Unglaublichkeiten.
Wertvoller als das Bernsteinzimmer: Insellyrik.
Foto von Meike Haberstock
Die haben ja sonst nix, könnte man jetzt denken, stimmt aber nur halb.
Rüganer haben nämlich wahlweise alle »... und mehr« oder »... und Meer«.
Besonders Clevere haben sogar »... und Me(h)er«, aber die überlasse ich Herrn Sick.
Rüganer ohne »... und Meer« haben eine URL.
Es ist erstaunlich, welche Überraschungen der lokale Einzelhandel und die Boombranche Heckscheibenaufkleber bereithalten:
Gisela Trenkow: Mode und Meer – Aquaworld: Wellness und Meer – Hotel Garni: Erholung und Meer – Gebr. Hermann: Rohrreinigung und mehr – Fun und Sport und mehr auf über 90 pm (!) – www.wild-east.de – www.ruegenmagic.de – www.karin-abc.com – www.absolut-mecklenburg.de – www.insel-und-mehr.de – www.otels.de – www.biosphaerenreservat-suedostruegen.de.
Worpswede ist nichts dagegen.
Guido Knopp am Kap Arkona: Da wird aus einer Fisch-Gaststätte einfach eine Historische Gaststätte gemacht und fertig ist die Doku »Hitlers Lieblingsrestaurants«.
Foto von Meike Haberstock
Am vorletzten Ferientag erfüllen wir in der einen Sonnenstunde Ehemanns Plansoll, dem Nachwuchs das Thema Sand näher zu bringen.
3 km feinster, bewachter »Textilstrand« laufen in Binz rechts und links in jeweils einer 50-Meter-Parzelle FKK- und schließlich im Hundestrand aus. Sind ja schließlich Randgruppen.
Wir entscheiden uns für mit Kleidung ohne Hunde und stolpern beim Ausbreiten unserer Decke über ein paar Rentner (beige im Sand!).
»So Henri, deinetwegen sind wir hier. Nicht, dass ich dich unter Druck setzen möchte, aber Sand, Steine, Meer, ist das nicht toll? Henri, Sand, Steine, Meer, schau mal!
Sand, Steine, Meer, Henri...«
Dem 80-cm-Mann war das alles ziemlich egal. Es war 16:00 Uhr und da hat es bitteschön Zwieback zu geben. Dem einzigen gebürtigen Ossi meiner Familie ist es egal, wo wir sind. Und es war ihm auch die letzten 10 Tage egal, wo wir waren.
Kirchen, Kraft-durch-Freude-Bad, Hafen, West oder Ost – Hauptsache Zwieback um 16:00 Uhr.
Urlaub in Ostdeutschland. Ein Satz wie ein T-Shirt-Zitat. Mehr nicht.