14.07.07

Meike Haberstock

Kranke Leute und so

»Du, die Wohnung ist erst ab dem 20. Juli frei. Vielleicht auch erst ab dem 22. Oder ab dem 24., genau kann ich das echt nicht sagen. Du, ich kann dich da nicht vorher reinlassen. Auch nicht zum Gucken. Das stört die Privatsphäre des jetzigen Mieters, und so. Verstehste, ne? Aber wenn Du willst, kannste auch ein, zwei Nächte bei mir pennen.«

Derjenige, der da glaubt, mit mir schon öfter Kartoffeln geerntet, Schafe gehütet oder sonstiges Vertrauliches getan zu haben, heißt Raimund F. und kümmert sich um die Untervermietung der Wohnung seiner Freundin Cindy. Ich werde für ein paar Monate aus beruflichen Gründen in Berlin sein und muss mich nun um eine Unterkunft kümmern. Eine Freundin empfahl mir die Mitwohnagentur, eine Vermittlungsstelle für Wohnraum auf Zeit, die mich ihrerseits nun an Raimunds verwies.

»Du, die Cindy ist so für zwei Jahre in Asien, ne. Brauchte 'ne Auszeit von Berlin und so.«

Und so heißt wohl auch eine Auszeit von Raimund. Ich erfahre weiter, dass die eigentliche 2-Zimmer-Wohnung nun nur noch eine 1-Zimmer-Wohnung ist, aber dafür Tageslicht im Bad (»Wir haben da einfach ein paar Glasbausteine in die Außenwand gesetzt, ne.«), ein selbstgebautes Futonbett und zwei Herdplatten hat. Eine Wasserader ist nicht in der Nähe und so seien die Schwingungen in der Wohnung auch echt gut und so. Aha und so.

Raimund schickt mir während des Telefonats Fotos. Cindys Privatsphäre stört das scheinbar nicht. Nach meiner fragt er nicht. Unter dem E-Mail-Pseudonym gutnachtg8 werden mir auf 2 MB Inneneinsichten in eine Wohnung gewährt, die ich nie haben wollte.

Ähnlich peinlich berührt war ich das letzte Mal, als ich in einem Fotolabor gejobbt habe. Man sieht Dinge, um die man nicht gebeten hat – hochglänzend oder matt macht da keinen Unterschied, wenn es sich bei dem Motiv um nackte dicke Männer in Hotelbetten handelt. Oder um Geschlechtsteile mit Küchenutensilien drin. Oder um Geschlechtsteile in Küchenutensilien.
Einmal musste ich ein nacktes Paar vor einem Tannenbaum, jenseits der 50 und eines vertretbaren BMIs, 28 Mal vervielfältigen, mit Postkartenaufdruck auf der Rückseite. Sie trug strähniges, rot-blondes Haar zur Perlenkette, die Brust hing sehr tief und Cellulite dürfte seit Jahren kein Fremdwort mehr für sie gewesen sein.
Er war das, was man gemeinhin als »halbseiden« bezeichnen würde – selbst nackt. Gekräuselte, graue Haare, die in den Nacken reichten, eine blau getönte Tropfenbrille, mehrere Ketten um den Hals und die unvermeidlichen blauen Kreuze, Anker und nackten Frauenleiber auf den Unterarmen tätowiert.
Ich frag mich bis heute, ob das Bild per Selbstauslöser entstand oder ob es einer der FKK-Weihnachtsgäste war, die nun eine dieser Postkarten als Dankeschön erhalten sollten. Hinter ihnen strahlte der Baum samt Engelshaar, vor ihnen lagen ein paar Geschenke, links ins Bild ragte eine weiße Herrensocke, die vielleicht auch für die deutlich sichtbaren Abschnürungen an den Waden vom Fotografierten verantwortlich war. Glückseligkeit pur.
Wenn ich heute die Geschichte erzähle, vergleiche ich das gerne mit den Traumata von Kriegsveteranen. Es gibt Dinge, die Menschen einfach nicht sehen sollten. Und wenn sie es doch tun, brennen sich die gesehenen Bilder ein Leben lang tief ins Stammhirn ein und lassen einen nicht mehr los. Erst recht nicht, wenn man wie ich damals 29 Abzüge gemacht hat, um sich einen als abschreckendes Beispiel aufzuheben.

Cindys Wohnungsbilder, die auf meinem Monitor erscheinen, lassen auf eine Augenkrankheit schließen. Eine ernsthafte. Alle Wände und Decken der Wohnung sind in einem dunklen Ockerton gewischt. Deckenlampen gibt es keine. Dafür bunte, festgetackerte Tücher, die die Glühbirnen verstecken. Was harmlos klingt, lässt mich bei 25°C Außentemperatur frieren. Cindy wohnt in einer diffus beleuchteten, möblierten Lehmhöhle. Da hilft auch kein Tageslicht durch Glasbausteine. Braune Wände, brauner Linoleumboden, braune Decke. Stünde ein nackter Inder im Raum, ich würde ihn nicht sehen. Weiterhin umgibt sich Cindy gern mit alten Demotransparenten (Jeder ist Ausländer – fast überall! / Soldaten sind Mörder!!! / Berlin ist bunt!), Flokati-Gardinen und Möbeln vom Sperrmüll. Cindy, oh Cindy.

Auf Foto 3 entdecke ich tatsächlich die Herdplatten, auf denen ein alter, grüner Emaille-Topf steht. Und ich weiß jetzt, dass es am Tag des Fotoshootings Nudeln gab. Oder am Tag vorher. Oder noch einen... nein, ich verbiete mir diesen Gedanken. In der Spüle stapelt sich eine Menge zusammen gesammeltes Geschirr und der unglaubliche Pfandflaschen-Vorrat, der jeden Domino-Day auf RTL als Kindergeburtstag dastehen lassen würde, hat Cindy wahrscheinlich die Asienreise finanziert. Das Futonbett entpuppt sich als matratzene Lagerstätte auf einer Europalette, im Bad (tatsächlich auch braun) erleuchtet eine Neonröhre die Unterwäsche-Installation, die sich auf einem kleinem Wäscheständer befindet. Ich zweifle an meiner Job-Zusage.

»Warum kommst Du nach Berlin?«

Raimund reißt mich aus meiner Schreckstarre. Neue Freunde finden, könnte ich sagen. Demos organisieren. Kristalle und Urzeitkrebse züchten. Kiffen. Touristen zählen. Ein Kinderprojekt im Mauerpark gründen, bei dem man Lehmhütten aus Hundekot baut. Raimund wären solche Projekte sicher nicht fremd. Stattdessen sage ich die Wahrheit.

»Arbeiten.«

»Oh.« sagt Raimund. Einfach nur »Oh«.

Er fragt nicht was, nicht wie lange, nur die Tatsache, dass, reicht vermutlich schon aus, um mich unter Generalverdacht zu stellen. Arbeiten. Himmel, und das in der heutigen Zeit. Das ist so ignorant.

Raimund zündet sich am anderen Ende eine Zigarette an.
»Fernseher und Telefon gibt es übrigens nicht, musst Du wissen. Wollte die Cindy nicht, hat sie nur abgelenkt von der Projektarbeit.«

Ich frage nicht nach. Muss ich aber auch nicht.

»Die Cindy hat hier echt gute Sachen gemacht. Wollte Zuckermais und Hanf auf den Grünstreifen in der Stadt anbauen, ne. Rohstoffe in die Metropole und so. Mit Leuten aus dem Knast wollte sie eine Literaturwerkstatt in stillgelegten U-Bahnschächten gründen und sie sammelte Informationen über die Verbindung von Wowereit zu Scientology. Ist schon toll, was die Cindy auf die Beine stellen wollte, wenn sie ihr Studium fertig hat. Jetzt musste sie aber erst mal raus, die Stadt saugt einen echt aus, musste wissen, Du.«

Nee, ist klar, Raimund. Ich frage nach dem zweiten Zimmer, das ursprünglich in der Wohnungsbeschreibung der Vermittlungsagentur genannt wurde, auf den Fotos aber nicht auftaucht.

»Die Tür ist zu. Du, das musst Du echt verstehen, die Cindy hat da so all ihre persönlichen Sachen eingeschlossen, ne. Fotos, Bücher, CDs, die Projektunterlagen, ihre Sammlung Klangschalen und all son Zeug, weißte. Zur Sicherheit. Gibt ja echt kranke Leute, und so.«

Ich stelle mich dumm. »Kranke Leute, Raimund?«

Ja, die gibt’s. Aber hoffentlich nicht in dem Hotel, in das ich einziehen werde.