Diese Kolumne lässt sich auch hören!

»Nach eigenen Angaben« vorgetragen von Kerstin Pollmann
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).

18.03.05

Meike Haberstock

Nach eigenen Angaben

Der Bewohner eines Wohnheims für psychisch Kranke, in dem ich einen Ein-Euro-Job hatte, noch bevor es diese gab, hatte nach eigenen Angaben einen Mittelwellensender im Kopf. Damit hielte er Kontakt zu zwei Kühen auf einer Weide vor den Toren der Stadt und wurde aufgefordert, sich an ihrem Streik gegen die faschistoide Milchmaschinerie Schleswig-Holsteins zu beteiligen.

Dies teilte er mir vor meinem alleinigen Wochenenddienst am Freitagabend mit – ebenso wie die Tatsache, dass er seine Tabletten nicht mehr nehmen wolle – die störten den Kontakt zu den Schwarzbunten.

Nach einigem Hin und Her einigten wir uns darauf, dass er Luisa und Elsa Folgendes zurückfunkte, um weder als unkooperativ, noch als Streikbrecher zu gelten:
Nehme nur noch die weißen Pillen – STOP – Lasse dafür Joghurt, Milch und Scheibletten weg – STOP – Warte auf Anweisungen – STOP.

Zwei Wochen lang trank er sein Nesquick mit Leitungswasser – dann hielt er sein Solidaritätspensum für erschöpft, nahm wieder die rosafarbenen Pillen und widmete sich der nach eigenen Angaben größten Herausforderung seines Lebens – mir während meiner Dienstzeiten das Skatspielen beizubringen.

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Und weg.

Eine demenzkranke Dame, die ich ambulant und gefühlt ehrenamtlich während des Studiums für das Rote Kreuz betreute, wartete am Neujahrsmorgen um 7:10 Uhr, nach eigenen Angaben, im Bus auf mich. Unter Einfluss ungehöriger Mengen Restalkohol hatte ich an besagtem Morgen ein wenig Mühe, meine Patientin in der von ihr seit 60 Jahren bewohnten und 15 Jahren nicht mehr verlassenen riesigen Altbauwohnung zu finden. Sie empfing mich nicht wie gewöhnlich an der Haustür, sie reagierte nicht angemessen auf meinen Gutenmorgenundfrohesneuesgruß und auch nicht auf »Ich hab Ihnen eine Stange polnischer Zigaretten mitgebracht.«

Ich fand sie schließlich, weil ich dem wiederholten Zischeln »Nicht mit dem Fahrer sprechen!« folgte und in der Wintermantelabteilung ihres gigantischen Kleiderschranks landete. Im Dunkeln stand sie dort in Hut und Mantel und hielt sich mit der Linken an der Kleiderstange über ihrem Kopf fest. Dies und die Tatsache, dass der schwarze ¾-Persianer neben ihr es scheinbar gewagt hatte, während der Fahrt mit dem Fahrer zu sprechen, genügten, um sich in Linie 4 zu befinden.

»Kindchen, wo bleiben Sie denn? Steigen Sie ein oder wollen Sie etwa bis zum Schrevenpark laufen?«
Fünf Sekunden später befand ich mich zwischen dem vorlauten Schwarzen und einem beigefarbenen Sommermantel mit feiner Rückensilhouette und Paspelnähten auf dem Weg zu einem kleinen Stadtpark in Kiel.

In weißer Dienstkleidung. Betrunken. Ohne Fahrkarte und im Dunkeln wartete ich schweigend mit der Hand an der Kleiderstange sechs Minuten lang. Dann beschloss ich, dass wir angekommen sein müssten und öffnete pustend und pfeifend die Türen.
»Aber bis zum Schrevenpark ist es noch eine Station! Denken Sie an mein Herz!«

Mit dem Fuß in der Tür schlug ich vor, dass wir diesen kurzen Weg zu Fuß gehen und anschließend etwas für ihren Kreislauf und gegen meine Kopfschmerzen tun könnten. Sie stimmte zu und ließ sich, ganz Grande Dame, von mir aus dem Bus helfen.

Nach einem langen Marsch durch alle Zimmer kamen wir in der Küche an, tranken gemeinsam einen Faber-Piccolo, rauchten polnisches Kraut und trugen ihren systolischen und meinen diastolischen Blutdruckwert in die Kreislaufkurve der Pflegedokumentation und unter »Sonstiges« Folgendes ein: »Frau K. hatte guten Stuhlgang und plant im Laufe des Vormittags nach Heikendorf zum Bridge zu fahren.«

»Vergessen Sie nicht, am Hauptbahnhof in den 12er Bus umzusteigen.« gab ich ihr noch mit auf den Weg und eilte zum nächsten Patienten.

Bert, nach eigenen Angaben meine älteste Freundin, hatte eine Zitrone im Kopf. Im letzten Jahr dachten wir, dass niemand etwas Größeres als eine Zitrone im Kopf haben könne, weil für XXL-Hirntumore kein Obst-Alias zur Verfügung steht. Außerdem stellte sich heraus, dass die Glaubwürdigkeit rapide abnimmt, wenn man vorgibt, einen Mega-Tumor im Köpfchen zu haben. Zitronen sorgten noch für kostenlose Mojiten, Pampelmusen nur noch für Spott.

Spott wie:
»In Anbetracht der dem Versicherten verbleibenden Zeit, ist die Investition nicht mehr gerechtfertigt.«
Bert hat mittlerweile mehr Pampelmuse als Hirnmasse im Kopf und ihm bleibt weniger Zeit, als man benötigt, um nach Angaben der Krankenkasse orthopädische Schuhe finanziert zu bekommen...

Spott wie:
»Ich kann nicht so lange bei ihm im Krankenhaus bleiben, ich will noch im Hellen nach Hause.«
Bert erdreistete sich allen Ernstes fünf Wochen lang 40 Kilometer weit entfernt von engen Verwandten auf einer Palliativ-Station zu liegen – und das im Winter, wo es nach Angaben der Verwandten ja so schnell dunkel und glatt würde...

Spott wie:
»Ihrem Antrag auf Pflegestufe II für den Versicherten kann nicht entsprochen werden, da der Bedarf für diese Art der Betreuung nicht gesehen wird.«
Diese Art von Betreuung würde Waschen, Baden, Hilfe beim Essen und Anziehen und möglicherweise dienstags und donnerstags auch ein nettes Wort einschließen. Nach Angaben der Pflegeversicherung zu viel für jemanden, der sich als Bayern-Fan über die Pleite von Borussia Dortmund freut, aber nicht mehr alleine aufstehen, nicht mehr sprechen und keine Banane schälen kann...

Spott wie:
»Naja, die Zeit, die er mit dem Tumor lebte, liegt ja schon weit über dem statistischen Durchschnittswert.«
Der liegt nach Angaben des behandelnden Arztes bei dieser Form des Tumors bei 6,5 Jahren. Und die waren ja schon vor 3 Jahren abgelaufen...


Liebe Leser,
haben Sie keine Angst vor Verrückten. Haben Sie keine Angst vor Verwirrten.
Haben Sie keine Angst vor Kranken.
Aber hüten Sie sich vor den nach eigenen Angaben Normalen aus Ihrem Umfeld.