28.12.06

Meike Haberstock

Jahreswechsel mit Senioren

Ich war seit ein paar Wochen beim ambulanten Pflegedienst »Menschlich(t)« und als Neue somit prädestiniert, Touren an Weihnachten und Neujahr zu übernehmen. Natürlich die Spät- und die Frühschicht. In dieser Reihenfolge.
»Muss jeder mal durch!« tröstete mich die mütterliche Pflegedienstleitung Ines bei der Dienstbesprechung und die Kolleginnen lächelten mir erleichtert zu. Die Dienstbesprechungen fanden Freitagnachmittags statt und waren Pflicht für alle. Während die immer gleichen Neuigkeiten über die Patienten ausgetauscht wurden, rauchten die Damen und der Zivi um die Wette und tranken sehr viel billigen Kaffee aus Pump-Thermoskannen. An den Fenstern klebten von Senioren gefertigte Weihnachtsdekorationen und ich fragte mich, ob Jopi Heesters zu Hause auch Strohsterne bastelte.

»Schmittchen Schleicher braucht dringend einen Termin bei der Fußpflege. Außerdem soll mal jemand dem Sohn mitteilen, dass seine zuckerkranke Mutter mehr als Pralinen und Halbfettmargarine braucht.«

Schwester Anne berichtete über Isolde Schmidt, eine Diabetikerin. Durchblutungsstörungen, die mit der Krankheit einhergingen, ließen allmählich ihre Füße absterben. Außerdem hatten Wassereinlagerungen die Beine stark anschwellen lassen und die gesamte Haut Knie abwärts hatte eine purpurne Farbe angenommen. Unmengen blauer, feiner Adern schlängelten sich dicht unter der Hautoberfläche.
Als ich ihr das erste Mal neue Strümpfe anzog, musste ich unweigerlich an einen Straßenatlas denken, der lange im Tiefkühlfach gelegen hatte.
Hier von der A43 am Kreuz Münster Süd auf die A1, bei Osnabrück auf die A30 und bei Georgsmarienhütte auf die B511, zweite hinter der Eisenbahnbrücke rechts und schon ist man am Meniskus. Aber Vorsicht, stellenweise extreme Glätte!
Frau Schmidt bewegte sich nur, um ihre Wärmflasche mit neuem heißem Wasser aus ihrem alten Kessel zu füllen. Dann schlich sie zurück zu ihrem Fernsehsessel und verbrannte sich häufig ihre nackten Füße.
Ines notierte »Füße Frau Schmidt« und nahm sich vor, den Sohn zu kontaktieren.

Anne fuhr fort. »Frau Gerhard weigert sich immer noch, sich ordentlich waschen zu lassen. Wenn ich es noch mal versuche, schicke sie Onkel Josef, einen Obersturmbannführer zu mir. Der würde mir schon Respekt beibringen. Ich will da nicht mehr hin, Ines!«

»Anne, bitte, die Frau ist eine alte, verwirrte Naziwitwe, aber nicht gefährlich. Also reiß dich zusammen. Und wasch sie! Sonst kommen erst die Fliegen, und dann die Behörden!«
Ines machte sich wieder eine Notiz in ihr dickes Patientenbuch und übergab an Schwester Marleen, eine üppige Rothaarige aus Sachsen-Anhalt.
»Herrn Schmidt geht es wie immer, die Blutdruckwerte sind zwar gut, der Tremor ist jedoch stärker geworden.«
Herr Schmidt, der von den Schwestern gerne mal Wackel-Peter genannt wurde, litt seit vielen Jahren am Parkinson-Syndrom. Seine Hände zitterten von Tag zu Tag mehr. Suppe konnte er gar nicht mehr essen, Sahnetorte nur mit Hilfe.
Einmal, als ich die Nachmittagsschicht hatte und bei ihm zum Blutdruckmessen hereinschaute, versuchte er ein Stück Schwarzwälder Kirsch zu essen.
Seine Hand zitterte dabei so schnell, dass ich das Stück Torte nur verschwommen sehen konnte. Mühsam schaffte er es, Teile davon in den Mund zu bringen. Dabei blieb über seiner Oberlippe ein kleiner weißer Hitler-Bart aus Sahne zurück, den ihm seine Frau schnell mit einem überdimensionalen Lätzchen wegwischte.
»Sie sollten mich mal Cocktails mixen sehen!« sprach er leise und lächelte. Dann widmete er sich wieder seinem Tortenstück, während ich ihm schwitzend Blutdruck maß.

Die Dienstbesprechung neigte sich dem Ende, etwas wirklich Neues hatte keine der Schwestern zu berichten. Also keine Toten. Ärzte mussten angerufen, Pflegeutensilien nachbestellt und zwei Patienten zur Kurzzeitpflege ins angeschlossene Pflegeheim überwiesen werden.
Die entnervten Ehefrauen der Bettlägerigen wollten eine Woche in den Urlaub fahren. Die beiden Damen waren seit Jahren befreundet und teilten das Schicksal von pflegebedürftigen Männern. Einmal im Jahr packten sie ihre Koffer und fuhren gemeinsam nach Norderney, um sich von Kathetern, Wundheilcremes und schlechter Luft im Schlafzimmer zu erholen. Den Männern war das recht.
Sie bekamen ein gemeinsames Zimmer und erzählten sich Geschichten aus früheren Tagen, als sie noch laufen und selber abführen konnten. Dabei guckten sie entweder fern oder den Pflegeschülerinnen in den Ausschnitt, wenn diese zum Kissenaufschütteln kamen.

Die Weihnachtsschicht war erträglich. 14 Senioren warteten im 10- bis 20-Minuten-Takt auf mich, um Geschenke wie Insulinspritzen, Blutdruckmessungen oder Einreibungen mit Klosterfrau Melissengeist zu bekommen.
Im Gegenzug wurde ich mit sechs Tafeln Schokolade (zweimal Halbbitter, zweimal Erdbeercreme, einmal Eierlikör, einmal Vollmilch), zwei Weihnachtsmännern, einer Packung Printen und einem Fläschchen Jägermeister bedacht.

Mit Frau Gerhard, der Naziwitwe, sang ich dreimal hintereinander »Ihr Kinderlein kommet«, bevor ich sie »oben rum« ein wenig waschen durfte.
»Unten rum« könne sie das alleine, herrschte sie mich an. Dass sie das könne, bezweifelte ich nicht, dass sie es machte, schon. Aber was will man sagen, in Anbetracht eines Obersturmbannführers in der Verwandtschaft? Die beiden Waschlappen für die Körperreinigung hingen an zwei alten Kunststoffhaken, die auf die grünen Kacheln geklebt waren. Für Gesicht und Oberkörper gab es einen gelben Waschlappen, für Beine und Intimbereich einen braunen. So war das bei vielen Senioren auf der Tour. Ich brauchte lange, um in den kleinen, stickigen Bädern voller Latschenkiefernbadezusätze und Medikamentenpackungen nicht mehr in unangemessenes Gelächter auszubrechen.

Im Anschluss an die horizontal geteilte Waschung, die genau bis zum Bauchnabel zu gehen hatte, schnitt ich Frau Gerhard noch die Nägel, obwohl das im Pflegekatalog nicht mit eingeschlossen war.
Der Medizinische Dienst, der diese Kataloge anhand der Pflegestufen festlegte, sah aber auch so abwegige Dinge wie »Mit dem Patienten reden«, »Betten neu beziehen« oder »Kühlschrank von hartnäckigem Schimmel befreien« nicht vor.
So etwas wurde von den Kassen nicht bezahlt. Und trotzdem machten es alle Schwestern. Der Zivi nicht. Der sah eher so aus, als würde er den Schimmel aus dem Gemüsefach rauchen.

Ich zog Frau Gerhard Ihren Hausanzug wieder an und begleitete die Trägerin des Mutterkreuzes vor den Fernseher. Eine Volksmusiksendung verdiente ihre Zustimmung und ich sah zu, dass ich weg kam.
Noch bevor ich die Tür ins Schloss zog, hatte sie vergessen, dass ich da war.

Anschließend ging ich nach Hause, duschte mich oben und unten rum und bescherte mich mit zwei Flaschen irgendeines Chateaus.

 

Am 1. Januar hätte ich um sechs Uhr aufstehen müssen. Wenn ich denn im Bett gewesen wäre. So fuhr ich direkt von einer Kellerparty zum Dienst. Innerhalb der letzten zwölf Stunden hätte ich viele Sachen nicht machen dürfen, betrunken Autofahren war eine davon.
Bis ich die Tür von Herrn Wielands Souterrain-Wohnung aufschloss, dachte ich, dass ich mich heute fühlte wie er: Kleidung und Haare ein wenig derangiert, der Atem war auch schon mal besser und was innerhalb der letzten Stunden passiert war, lag im Dunkeln. Aber das war ja noch kein Grund zum Verzweifeln, solange noch was in der Flasche war.
Ich musste zugeben, dass ich mich besser fühlte als er. Trotz Sodbrennen, aufsteigender Kopfschmerzen und Gleichgewichtsstörungen. Herr Wieland war tot. Früher war er Kameramann gewesen, bevor es mit dem Trinken zu schlimm wurde. Er hatte sogar mit Größen wie Horst Buchholz und Liselotte Pulver gedreht, von denen Autogramme im Wohnzimmer an der Wand hingen.
Als seine Aufnahmen immer zittriger wurden, bekam er keine Aufträge mehr und gab sich hauptberuflich dem Suff hin. Eigentlich war Herr Wieland der Vorreiter aller dänischen Dogmafilme, aber in den 60ern sah man das wohl anders.

Ich konnte die sich nach innen öffnende Wohnungstür nur schlecht aufschieben, da er ausgerechnet mit dem Kopf auf der Fußmatte liegen musste. Komm rein, bring Glück hinein. Ich schob ihn beim Öffnen der Tür ein wenig zur Seite und stieg über ihn in die Wohnung hinein. Meine erste Leiche. Helmut Wieland lag auf dem Bauch, das Gesicht nach unten gerichtet, neben sich ein zerbrochenes Senfglas mit Resten von billigem Cognac. Bestimmt hatte ihn auf dem Rückweg vom Klo einfach der Schlag getroffen und er war umgefallen wie eine Dachlatte.
Nicht das schlechteste. Inge Meysel träumte von so einem Tod, hatte sie mal in einer Talkshow gesagt, und dabei flogen keine Spucketröpfchen aus ihrem Mund auf das Hemd des Moderators.
Zur Sicherheit habe sie aber immer eine Zyankalikapsel dabei, falls ihr Entmündigung und ein Pflegeheim drohten. Sie wusste wohl von den Strohsternen.

Ich schaltete den Fernseher aus, riss die Fenster auf und Ines aus dem Schlaf. Nach dreimal Klingeln ging sie ran. »Herr Wieland ist tot!« sagte ich ihr.
»Na hoffentlich noch gestern, ab heute gibt es kein Sterbegeld mehr für die Angehörigen«, antwortete sie höchst professionell und war vier Minuten später vor Ort. In Dienstkleidung und mit ordentlicher Frisur. Ines war mir ein einziges Rätsel. Der Notarzt kam zur gleichen Zeit.
Man begrüßte sich im Flur und wünschte sich ein Frohes Neues Jahr.

»Na alter Trinker, Zeit für den Abspann?«, sagte der Arzt und begann mit der Untersuchung. Puls, Augenreflexe, Herztöne. Fehlanzeige. Er schien Helmut zu kennen, und nachdem er fertig war, füllte er den Totenschein aus. Herr Wieland war schon mindestens zehn Stunden tot, also noch im letzten Jahr gestorben.
Wir berieten, welchen Titel wohl Helmuts Leben tragen sollte.

»Die Szene ist im Kasten!« schlug der Sanitäter vor.
Dr. Kohnke plädierte für »Flasche leer!«
Ich fand »Tod im Küstennebel« passend, aber Ines schickte mich noch vor der endgültigen Abstimmung zu meiner nächsten Patientin.

»Los Maria Cron, jetzt fahr schon weiter. Deine Rolle endet hier!«

So viel Humor hatte ich Ines gar nicht zugetraut. Ich packte meine Sachen und machte mich mal wieder auf den Weg zu Eva Braun, wie wir Frau Gerhard manchmal nannten.