Was gehört zu einem gepflegten Fußballspiel? Tobias Kaufmann stellt rechtzeitig zur WM jeden Tag je ein wichtiges Element auf kolumnen.de vor: Elf Gebote für Fußballfans und solche, die es werden wollen.

01.06.06

Tobias Kaufmann

Die Elf Gebote
Gebot 3: Aberglaube

Menschen brauchen Rituale, die Halt verschaffen. Fußballer sind offenbar besonders haltlose Menschen. Denn Fußball ohne heidnische Rituale ist undenkbar. Weil ich weiß, dass man so was eigentlich nicht befördern sollte, möchte ich darauf hinweisen, dass der spezielle Fußball-Aberglaube etwas ausgesprochen Gottesfürchtiges ist. Erklärung folgt später.

Heidnische Rituale: Der englische Ausnahmestürmer Alan Shearer von Newcastle United, der vor wenigen Wochen leider seine Karriere beendet hat, nahm vor jedem Spiel ein heißes Vollbad. Trainer Peter Neururer vom Erstligisten Hannover 96 isst vor jedem Spiel das gleiche, lässt die Haare wachsen und zieht immer die selben ungewaschenen Klamotten an – so lange, bis sein Klub verliert. Dann kommen ein neues Essen, eine neue Frisur, ein neues Outfit dran.

Ich habe ähnliches selbst miterlebt und, ich gebe es zu, gepflegt. Ich sehe zu, dass ich nie als letzter den Rasen betrete. In meinem Keller liegt ein intaktes Paar Fußballschuhe, das ich nie mehr anziehen werde, weil ich darin vor Jahren einen Elfmeter verschossen habe. Mit der SG Steinlah/Haverlah mussten wir einmal in den ollen Ersatztrikots der alten Herren auflaufen, weil unsere Jerseys weg waren. Und, was soll ich sagen? Vollkommen überraschend gewannen wir, nach zuvor fünf Klatschen am Stück. Also zogen wir die Dinger beim nächsten Spiel wieder an. Nach drei Wochen haben wir endlich wieder verloren. Bei Makkabi Berlin schließlich kamen wir vor jedem Spiel in der Kabine zusammen, legten die Hände übereinander und brüllten: »Makkabi chai!« (»Makkabi lebe!«) Ich bin sicher, wenn wir einmal »Gurkensalat!« gerufen und anschließend einen außergewöhnlichen Sieg vollbracht hätten – bei Makkabi hieße die Parole immer noch »Gurkensalat!«

Noch abergläubischer als die Spieler sind nur die Fans. Der Schriftsteller Nick Hornby hat dazu in »Fever Pitch« eine vortreffliche Episode beigetragen: »Chris Roberts kaufte sich eine Zuckermaus, biss ihr den Kopf ab und ließ den Rest des Tieres auf der Newmarket Road aus der Hand fallen, wo er von einem Auto überfahren wurde. An diesem Nachmittag schlug Cambridge United, das bis dahin einen schweren Stand in der zweiten Division hatte, Orient 3:1 – ein Ritual war geboren. Vor jedem Heimspiel marschierten wir alle in den Süßwarenladen, erstanden unsere Mäuse, und bissen den Kopf ab, als ob wir den Sicherungssplint einer Handgranate entfernen würden, und warfen die Torsos unter die Räder entgegenkommender Autos. United, derartig beschützt, blieb zu Hause monatelang ungeschlagen.«

Man sollte den Aberglauben im Fußball nicht verurteilen, weil er aus Sicht der großen Religionen, die an den einen Gott glauben, fragwürdig ist. Wer in eine Schlacht mit ungewissem Ausgang zieht, wen der Kampf Mann gegen Mann erwartet, der sucht innere Ruhe und Stärke. ER kann dabei nicht helfen, denn der echte Gott hat auf dem Spielfeld nichts verloren. Damit sind wir beim gottesfürchtigen Aspekt des Fußball-Aberglaubens.

Religiöse Kicker ziehen beim Torjubel gern das Trikot aus und halten eine auf dem Unterhemd platzierte fromme Botschaft in die Kameras – so als habe nicht etwa eine kopflose Zuckermaus geholfen, den Torwart zu überwinden, sondern Gott. Ein Plakat mit der Aufschrift »Jesus ist die Wahrheit und das Leben« haben die Brasilianer des FC Bayern München nach der 20.

Meisterschaft des Lederhosen-Klubs enthüllt und werbewirksam ins Bild gesetzt. Der tief religiöse brasilianische Weltstar Jorginho aber sagt: »Ein Stürmer, der ein Tor schießt und dann ein T-Shirt zeigt, auf dem ›Gott ist mit dir‹ steht, sollte nicht vergessen: Das gilt auch für den Torwart.«

Anders gesagt: Man sollte Gott nicht dazu nötigen, zum Duell SC Buer gegen VfL Erkenschwick Stellung zu beziehen.

Das bringt Unglück.

Was gehört zu einem gepflegten Fußballspiel? Tobias Kaufmann stellt rechtzeitig zur WM jeden Tag je ein wichtiges Element auf kolumnen.de vor: Elf Gebote für Fußballfans und solche, die es werden wollen:

Gebot 1: Rasen | Gebot 2: Trikots und Schuhe | Gebot 3: Aberglaube | Gebot 4: Der Ball | Gebot 5: Fans | Gebot 6: Trainer | Gebot 7: Teamgeist | Gebot 8: Tore | Gebot 9: Taktik | Gebot 10: Schiedsrichter