Was gehört zu einem gepflegten Fußballspiel? Tobias Kaufmann stellt rechtzeitig zur WM jeden Tag je ein wichtiges Element auf kolumnen.de vor: Elf Gebote für Fußballfans und solche, die es werden wollen:

Gebot 1: Rasen | Gebot 2: Trikots und Schuhe | Gebot 3: Aberglaube | Gebot 4: Der Ball | Gebot 5: Fans | Gebot 6: Trainer | Gebot 7: Teamgeist | Gebot 8: Tore | Gebot 9: Taktik | Gebot 10: Schiedsrichter

03.06.06

Tobias Kaufmann

Die Elf Gebote
Gebot 5: Fans

»Fußball ist wie alle große Kunst einfach. Jeder Zuschauer ist nach spätestens drei Spielen Kenner. Das Publikum ist also ausschließlich aus Kennern zusammengesetzt.« Dieses Zitat von Bertolt Brecht enthält viel Wahrheit. Eine besondere Form des Publikums sind Fans. Diese Menschen sind nicht nur Kenner, sondern Hörige. Kein Mensch wurde je gefragt, ob er Fan sein will. Jeder Fußballfan hat irgendwann, irgendwo einen Schlüsselreiz erlebt, der ihn oder sie an einen Verein bindet. Der Schriftsteller Nick Hornby hat das so ausgedrückt: »Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden ...«

Der Unterschied zwischen Klubs und Frauen: Man kann durchaus mehrere Klubs lieben, aber man tauscht sie nicht aus, sondern liebt parallel. Das machen nur wenige Frauen mit. Es gibt Phasen, in denen das Gefühl verblasst, aber verschwinden tut es nie – sonst ist man kein Fan.

Wir Fans können das Spiel unseres Klubs nicht genießen. Wir durchleben jedes Mal einen neunzigminütigen Höllentrip aus Angstschweiß und Adrenalin, der nach einem Sieg in einer Explosion der Erleichterung und Glückseligkeit mündet. Das ist die stärkste Droge, die es gibt. Fans sind Menschen, die so unendlich viel Herzblut in ein abstraktes Gebilde investieren und daran gegen alle Ergebnisse festhalten, dass man sie als eine Mischung aus Masochisten und Frommen bezeichnen kann. Hiob war vielleicht der erste Fan der Menschheit. Einer, der ganz unten war, und doch seinen unerschütterlichen Glauben an den einen Gott nicht verlor. Alle Fans hoffen, nach dem Tal der Tränen aus Abstiegen und Niederlagen wie er für die Treue belohnt zu werden, so wie es in der Bibel versprochen wird: »Und der Herr segnete Hiob fortan mehr als einst« (Hiob 42, 12).

Das Business Profifußball wäre nicht lebensfähig ohne die Millionen von Menschen, die bereit sind, Unmengen Geld für etwas auszugeben, was ausschließlich ideellen Wert hat. Und für die Fußballer selbst sind Fans ungemein inspirierend. Denn sie neigen dazu, Trommeln, Tröten und Gesänge einzusetzen, die dem Spiel erst den stimmungsvollen Rahmen geben. Nicht umsonst nennt man sie den »zwölften Mann«.

Manchmal springt der Krach auf den Rasen über, und Spieler, die eigentlich nicht mehr können, beginnen, um ihr Leben zu rennen – für sich, für das Spiel, für die Menschen auf den Tribünen – und plötzlich gelingen Dinge, die vorher nicht gelangen, Siege, die unmöglich schienen. Bei einem Spiel mit unserer Schulmannschaft in Bad Harzburg sind wir einmal von der Schulband angetrieben worden. Wer dieses Match gesehen hat, wird den biblischen Bericht darüber, wie die Israeliten die Mauern von Jericho mit Pauken und Trompeten zum Einsturz brachten, nicht mehr für unmöglich halten.

Fans sind manchmal aber auch unangenehm, vor allem, wenn sie zum Gegner halten. Mancher Fan meint, weil er Eintritt bezahlt hat, könne er sich alles erlauben. Mein Vater, der früher ein gefürchteter Stürmer war, ist als junger Mann von einem Rentnerfan des 1.FC Kaiserslautern im Sprint an der Außenbahn niedergestreckt worden – der alte Mann hatte einfach seinen Spazierstock durch die Absperrung gestreckt. Auch die eigenen Fans können ungemütlich werden. In der Türkei etwa gehen die Autos versagender Fußballstars regelmäßig in Flammen auf. Beim Teltower FV bin ich mal mit einer harmloseren Variante des Fanzorns konfrontiert worden. Ein Mann kam nach einem Fehlpass an die Seitenlinie gestürmt, fuchtelte mit den Armen und brüllte mich an: »Du machst unser ganzes Spiel kaputt! Das kann ich ja besser!« Der Mann hatte nur ein Bein.

Die Serie ist erstmals als wöchentliche Kolumne zur Fußball-EM 2004 in der »Jüdischen Allgemeinen« erschienen. Sie wurde exklusiv für kolumnen.de aktualisiert und überarbeitet.