03.09.13

Tobias Kaufmann

Ein Zwerg im Zoll

Dies ist die Geschichte eines Zwergs. Eines Gartenzwergs, um genau zu sein, eines amerikanischen Gartenzwergs. Und eine Geschichte vom deutschen Zoll. Und von mir. Man könnte die Geschichte ein Märchen nennen, weil sie lang ist. Zu lang. Aber es gibt etwas, das diese Geschichte von einem Märchen unterscheidet. Sie geht nicht gut aus.

Begonnen hat alles damit, dass ich mich aus Gründen, die eine ganz andere Geschichte sind, im Laufe der vergangenen 18 Monate zu einem Football-Fan entwickelt habe. Also bestellte ich eines Nachts in einer der vielen Unterbrechungen eines Football-Spiels auf ESPN eine Tasse und einen Gartenzwerg meines Lieblingsteams, den New England Patriots, aus einem offiziellen Fanshop in Amerika.

Der Gartenzwerg war ein Gag. Am Wochenende vor dem Super Bowl wollten wir zu Hause einen amerikanischen Abend für Freunde geben. Ich freute mich wie der sprichwörtliche Bolle, den Patriots-Zwerg als Gruß vor unsere Haustür zu stellen. Ich ließ 25 Euro für die Utensilien und 30 Euro für den Express-Transport von meinem Konto abbuchen – der Zwerg sollte ja pünktlich sein. Bereits drei Tage später bekam ich eine Mail aus Jacksonville, Florida, dass die Devotionalien verschickt worden seien. Und nun endlich beginnt die Geschichte.

Brady

Foto von Tobias Kaufmann

Weitere drei Tage später hatte ich Post. Von der Post. Mein Paket sei im Zollamt in Porz-Wahn, schrieb mir die Post, man könne es mir nicht zustellen. Der Versender habe es versäumt, die Rechnung sichtbar außen am Paket anzubringen, weswegen es nicht verzollt werden gekonnt habe. Dies müsse ich nun im Amt nachholen, und zwar innerhalb von zwei Wochen. Ich solle dieses Schreiben mitbringen, meinen Personalausweis und Bargeld für den Zoll. Die Gebühren betrügen voraussichtlich 0,00 Euro (!). Die Öffnungszeiten des Amts: Montag bis Donnerstag von 7 bis 15 Uhr, Freitags bis 14 Uhr.

Ich hatte in den darauf folgenden Tagen keine Zeit, zu diesen Uhrzeiten nach Porz zu fahren und wieder zurück. Die New England Patriots verloren das Halbfinale gegen die Baltimore Ravens. Das Schreiben der Post ging verloren. Aber am Montag nach der Super-Bowl-Nacht hatte ich mir extra freigenommen. Also beschloss ich, nach Porz zu fahren und meinen Zwerg aus dem Zoll zu holen. Manchmal bin ich so naiv.

Der Wartebereich des Zollamts ist ein gefliester Raum. Jeder, der hereinkommt, entdeckt früher oder später gegenüber vom Getränkeautomaten den Kasten mit den Wartenummernzetteln und zieht einen. Und stutzt. Denn die Zahl auf dem Zettel in Verbindung mit den Zahlen auf der Anzeige, aus denen hervorgeht, wie viele Leute noch vor dem Neuankömmling an die Reihe kommen, kombiniert mit der Tatsache, dass alle Stühle an den Längsseiten des Raums mit Menschen besetzt sind, die ausdruckslos vor sich hin starren – dies wundert jeden. Dauert das wirklich so lange? Kann nicht sein.

Ich ziehe Nummer 63. An der Anzeige leuchtet die 39 auf. Es sind also 24 Leute vor mir dran. Kein Problem, es sind drei, vier Schalter geöffnet und ich habe extra zwei Stunden eingeplant, bevor ich wieder los muss, um die Kinder von der Schule abzuholen.

Ich setze mich und vertreibe mir die Zeit damit, die an den Wänden aufgehängten Zettel zu lesen. Allerlei Informationen der Zollpolizeigewerkschaft gibt es da, ein Infoblatt „Berufe in Uniform“ und das Schild "Bitte den Schwenkbereich der Türe freilassen!!!". Neben dem Getränkeautomaten bitten Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt um meine Mithilfe bei einem Anschlagsversuch auf den Bonner Hauptbahnhof. Das steht da wirklich so.

Zwischendurch laufen immer mal wieder Mitarbeiter der Behörde aus dem offenen Gang rechts von mir durch den Raum zu der Tür, deren Schwenkbereich wir freilassen sollen. Es sind erstaunlich viele junge Frauen und Männer um die 20 darunter, die stylische Klamotten tragen. Vielleicht bietet der Zoll ja wirklich die auf den Infozetteln versprochene interessante und sichere Zukunft? Ab und zu kehren Kunden aus einem der Gänge zurück. Einige transportieren ganze Paketwagen, andere nur eine kleine Kiste. Aber alle haben diesen Ausdruck auf dem Gesicht, den man hat, nachdem man sehr lange, sehr dringend auf die Toilette musste und sich endlich erleichtern konnte.

Ich hätte ein Buch mitnehmen sollen. Oder eine Zeitung. Kopfhörer. Irgendwas.

Eine Stunde und 40 Minuten später komme ich dran. Eine Stunde und 40 Minuten! Aber jetzt muss ich ja nur noch da rein, den Zwerg holen, bezahlen, und los. Perfekt geplant.

Ich drücke einem jungen Mann mit rotem Kapuzenpulli und Baseballkappe die Benachrichtigung in die Hand und zeige ihm meinen Ausweis. "Alles klar, kleinen Moment." Ich nehme mir den Moment Zeit, um die Kombination Kapuzenpulli, Baseballkappe und deutsches Amt zu durchdenken. Ein paar Minuten später bringt er mir das Paket. Ich soll es eigenhändig öffnen. Er schaut zu. Eine Tasse. Und ein Zwerg. Der junge Mann grinst, dann druckt er Formulare aus, über 6,40 Euro Zoll und 12 Euro Lagergebühr. Während der junge Mann das alles erledigt, darf ich schon mal die Verpackung auf dem Hof entsorgen. Das spart Zeit. Ich zerreiße die Pappe. Dabei fällt mir etwas auf: ein durchsichtiges Plastikfolietäschchen und darin, wasserfest und gut sichtbar, eine Rechnung. Sollte das etwa jene Rechnung sein, deren dreistes Fehlen mir diesen Vormittag beim Zoll überhaupt erst eingebrockt hat?

Zurück im Büro des Zöllnerlehrlings versuche ich, meine Kritik trotz der verrinnenden Minuten möglichst beiläufig klingen zu lassen. "Kann es zufällig sein, dass das hier, das außen am Paket klebte, exakt jene Rechnung ist, die angeblich fehlte?" "Oh, ja", sagt der junge Mann freundlich, "das stimmt. Passiert manchmal in Frankfurt."

Er drückt mir einen Stapel Unterlagen in die Hand. Von meinem großzügigen Zeitbudget sind acht Minuten übrig. Nur noch zur Kasse, die Gebühren zahlen, den Zwerg nehmen – und dann raus hier! Ich gehe durch die Tür, deren Schwenkbereich wir frei lassen sollen. Aus dem Kassenzimmer kommt mir ein Herr entgegen. Er schließt hinter sich ab, sagt "Kleinen Moment, warten Sie hier" und verschwindet schräg gegenüber auf der Toilette. "Es gibt so Tage", denke ich. Als der Staatsdiener von der Toilette zurückgekehrt ist, sein Büro aufgeschlossen und schnaufend hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hat, bleiben mir noch fünf Minuten.

Der nun folgende Teil der Geschichte hat sich genau so zugetragen. Ich schwöre es.

Der Beamte ruft mich also herein. Es ist ein korpulenter Herr, sein Pulli ist zu warm für das Büro. Ich setze mich vor seinen Schreibtisch, auf dem ein Computer steht und ein Stempelkissen mit Stempeln und eine Rechenmaschine mit Papierrolle. Links von dem Beamten steht ein Tischchen mit einem Drucker und einem Stapel Din-A-4-Papier. Ich reiche dem Herrn meinen Stapel Unterlagen und meinen Ausweis. Er sieht mich nicht an, starrt nur abwechselnd auf die Dokumente, die Tastatur und den Bildschirm und beginnt näselnd zu sprechen: "Sie sind also Herr Tobias Kaufmann..." "Korrekt", sage ich. Aber der Mann ignoriert mich und murmelt einfach weiter. "... geboren am 15.4.1976 in Leverkusen ..." "Stimmt" "... wohnhaft ..." Der Mann liest die Daten alle vor, als wäre ich nicht da, und tippt sie in den PC. Dann nennt er eine unendlich lange Vorgangsnummer, notiert sie, rechnet etwas auf der Rechenmaschine aus und nennt mir eine der beiden Summen, die bereits auf meinem Vordruck stand. Ich sage: "Und dann kommen ja noch die Lagergebühren hinzu." "Ja", sagt der Beamte, "aber dafür gibt es eine andere Vorgangsnummer, das müssen sie extra zahlen." Ich seufze und krame Kleingeld hervor. Er zählt die Münzen, die ich ihm reiche, in eine Kasse, die er aus einer Schublade hervorgeholt hat. Den Beleg aus der Rechenmaschine reißt er von der Rolle. Ich unterschreibe ihn. Er nimmt ein leeres Blatt Papier von dem Stapel auf dem Tischchen. Er klebt den Beleg mit Pritt-Stift darauf. Er macht ein paar Stempel-Abdrücke. Er heftet die Unterlagen zusammen. Er schaut sie sich noch einmal an. Schließlich legt er sie in ein Fach in dem Tischchen mit dem Papierstapel. Dann räumt er den Pritt-Stift und die Kasse und den Tacker weg. Sein Schreibtisch ist wieder so, als wäre nie jemand hier gewesen. Mir bleiben exakt zwei Minuten. Der ordentliche Beamte nimmt sich die zweite Hälfte meiner Papiere, sieht mich nicht an und beginnt näselnd zu sprechen.

"Sie sind also Herr Peter Paschulka* ..." Ich räuspere mich. "... geboren am 21.9.1961 in Neuss ..." "Äh ..." "... wohnhaft Ostheimer Landstraße 51 ..." "Nein", sage ich, "ich bin immer noch derselbe Tobias Kaufmann, über dessen Anwesenheit hier wir beide uns eben noch einig waren." "Hmmm", sagt der Beamte ohne mich anzusehen, "aber hier auf den Papieren steht was anderes. Da hat Ihnen der Kollege wohl einen falschen Zettel gegeben." Er sagt noch etwas wie "passiert manchmal", und dass ich gern direkt zu dem Kollegen gehen und mit einem korrekten Dokument wiederkommen könne, ohne eine neue Wartenummer zu ziehen, und dass er mich dann auch als Ersten wieder aufrufen werde, und ich sehe auf die Uhr und weiß: Der Bus fährt ohne mich, die Bahn fährt ohne mich, die Kinder muss meine Frau abholen. Falls der praktisch leere Akku des iPhones mich noch eine SMS schicken lässt.

Zurück durch die Tür mit dem Schwenkbereich, durch den Warteraum, den Flur, zum Zöllnerlehrling, der natürlich nicht da ist. Eine seiner Kolleginnen hilft mir, ihn zu suchen. Als wir ihn gefunden haben, erklärt sie ihm, dass man bei der Zolldokumente-Software genau deswegen immer mit einem leeren Dokument arbeiten und nicht einfach das vorhergehende benutzen und unter "Speichern unter" neu ablegen soll, weil man sonst aus Versehen manchmal auf dem allerersten Blatt vergisst, die korrekten persönlichen Daten des Vorgangs einzutragen und statt dessen die Daten aus der anderen Datei stehen bleiben. "Ach, klar, sorry", sagt der junge Mann. Jetzt muss er natürlich meine persönlichen Daten nochmal neu eintragen und alles ausdrucken und ich gehe damit zurück zum Mann mit der Kasse hinter der Tür, in deren Schwenkbereich immer noch niemand eine Bombe gelegt hat, und ich setze mich vor seinen ordentlichen Schreibtisch, lasse mir meinen Namen vorlesen und eine Vorgangsnummer und bekomme, weil ich mit EC-Karte zahle, diesmal sogar zwei Belege gezeigt, die er mit Pritt-Stift auf ein leeres Blatt Papier klebt, und ich zeige meine Zettel ein letztes Mal beim Zöllnerlehrling vor, der mir meine Tasse gibt und den Zwerg. Und wir sind frei.

Zwei Stunden und vierzig Minuten habe ich auf dem Zollamt verbracht. Meine finanzielle Investition für den Football-Einkauf ist vom reinen Warenpreis in Höhe von 25 Euro auf 75 Euro gestiegen. Natürlich fällt auf dem Rückweg in Porz die Bahn aus, aber ich erzähle jetzt nicht auch noch eine Bahn-Geschichte. Denn jetzt ist es ja geschafft, es ist gut ausgegangen. Ich zeige den Zwerg meiner Frau und dann stelle ich ihn auf den Esstisch und betrachte ihn. Helm und Jersey in Silber-Navy Blue, den Football in der einen Hand, die andere fordernd ausgestreckt, den bärtigen Mund zur grimmigen Grimasse verzogen. Er gefällt mir, er war die Mühe wert. Ich werde ihn Brady nennen, so wie der große Quarterback der Patriots, Tom Brady, nur ohne Vornamen. Ich mache ein Foto von Brady und lade es stolz bei Facebook hoch. Vorsichtig trage ich ihn in den Garten und stelle ihn auf das Sims, das die Kellertreppe von der Terrasse trennt. Dann drehe ich mich um. Als ich die Tür zum Garten schließen will, höre ich ein Geräusch. Es ist ein ziemlich unverwechselbares Geräusch, also keins, das man mit etwas anderem, völlig harmlosen, verwechseln kann. Es ist jenes Geräusch, das diese lange – viel zu lange – Geschichte von einem Märchen unterscheidet.

Märchen enden mit Friede, Freude, Eierkuchen und der Möglichkeit, die Prinzessin und der Prinz und ihr Frosch und die gute Königin und die lieben Kinder und all die anderen könnten immer noch ein sorgenfreies Leben leben, falls sie nicht irgendwann friedlich gestorben sein sollten. Die Geschichte von Brady, dem Zwerg aus dem Zoll, endet mit dem Geräusch Klonk. Genau so hört es sich an, wenn ein Keramik-Gartenzwerg, der mich 75 Euro und einen halben Tag auf dem Zollamt gekostet hat, etwa eine Minute nach der glücklichen Ankunft in meinem Haus von einem kleinen Sims auf die Steinplatten meiner Terrasse fällt und zerbricht.

Ohrenzeugen hätten glauben können, nach dem grausam kurzen Klonk habe Brady noch eine Weile da gelegen und leise und verzweifelt gewimmert. Doch das war nicht Brady.

*Name geändert.

Brady

Foto von Tobias Kaufmann