06.08.03

Tobias Kaufmann

Die erste Babykolumne:
Bob der Bär

Eltern sind bescheuert. Objektiv gesehen gibt es aus Sicht eines kinderlosen Singles keinen anderen Ausdruck für eine Verhaltensweise, zu der es gehört, dass man stundenlang in ein Kinderbettchen starrt, in dem sich ein kleines Mädchen fast gar nicht bewegt. Als neuer Vater kann ich allen kinderlosen Ignoranten allerdings nur entgegen schleudern: Und sie bewegt sich doch! Allein das Privileg, live eine der zahnlosen Grimassen bewundern zu dürfen, die einem Neugeborenen zur Verfügung stehen, ist großartiger als es Fernsehen je sein könnte. Der Mittelpunkt der Erde ist nicht länger heiß und lavabrodelnd. Zumindest nicht meiner. Außerdem ist er eine sie.

Sie heißt Jael. Genau: Jael Adie Kaufmann. Das Standesamt hat unserer Tochter ein »e« an den Zweitnamen bevorschriftet. Es ist nämlich so, dass »Jael« und das eigentlich vorgesehene »Adi« Namen sind, die angeblich sowohl für Jungen als auch für Mädchen gelten können. Und solche Missverständlichkeit sind laut den gründlichen deutschen Gesetzen zu verhindern. Mit einem »e« war dem Geschlechtermissverständnis am einfachsten abgeholfen und dem Gesetz Genüge getan. Alternativ hätten wir auch einen dritten, eindeutigen Namen hinzufügen können. Norbertine oder so.

Ich weiß, dass dieser Einschub keinerlei Pointe hat, aber das ist nun mal so. Eltern erzählen dauernd bescheuerte Geschichten. Und kitschige. Adie heißt: Juwel.

Mein Juwel ist ein bisschen gelb, wegen der Säuglingsgelbsucht. Auf den Knöpfen ihres blauen Strampelanzuges steht »Bob der Bär«. Das hätte ich bis vor kurzem dämlich gefunden, jetzt finde ich es entzückend. Sie kann quietschen wie ein schleuderndes Auto und meckern wie eine Bergziege. Sie kann »Jahwe!« schreien, den alten biblischen Ausdruck für Gott, und »Jaaaaaaeeeeeeel« und »Auuuuua«. Zumindest hört es sich so an, wenn man ein bisschen guten Willen mitbringt. Sie kann, wenn sie ihre Augen zusammenkneift, in dem quadratischen Gesicht unter ihrem eigenwilligen Haarbüschel aussehen wie Kim Jong Il, der Staatschef von Nordkorea – wenn man davon absieht, dass ich noch nie das Bedürfnis hatte, Kim Jong Il zärtlich in die Nase zu beißen. Und sie rülpst wie ein Alter nach dem dritten Bier. Zum Bescheuertsein von Eltern gehört, dass wir verzückt auflachen, wenn unser 55 cm kurzes Menschlein ohne Rücksicht ein »Booooäääääärp!« in die Runde schmettert.

Die Müdigkeit aus den ständig unterbrochenen Nächten schleppe ich zwar durch die ganze Woche, aber die Woche verblasst ohnehin bei jedem Lächelversuch, jedem Augenklimpern und dem Schlag, der mich trifft, wenn sie in meinem Arm liegt und mit ihren kleinen Händchen nach mir greift.

Ich weiß, dass man diese Gefühle als Nichtbetroffener bestenfalls ansatzweise nachvollziehen kann, weil es bei mir bisher auch so war. Bisher fand ich die meisten Babies einfach süß. Mehr war nicht. Doch dieser Sentimentcocktail aus Rührung, Glück, Sorge und Liebe, der mir jetzt durch die Adern schießt, wenn mich meine Tochter ansieht, ist etwas, was wir bescheuerten Eltern exklusiv haben und das mindestens so geheim ist, wie das Rezept von Coca Cola.

Dass ich eines Tages tatsächlich die taz abbestellen würde und dass ich Wolfgang Schäuble einmal besser finden würde als Heidemarie Wieczorek-Zeul, das habe ich vor zehn Jahren für unmöglich gehalten, vor fünf Jahren bekämpfenswert, vor zwei Jahren ahnte ich, dass es passieren könnte und inzwischen kommt es mir logisch vor. Aber dass ich kurz dafür sein könnte, wieder an Gott zu glauben – nein, unvorstellbar.

Bis vor zwei Wochen Jael auf die Welt kam und mich im Sturm erobert hat.

Gott hatte ich offiziell verabschiedet, als Roland Wohlfahrt 1989 drei Tore gegen den 1.FC Köln schoss und den FC Bayern ausgerechnet im Müngersdorfer Stadion wieder mal zum Meister machte. Ich stand zornbebend und tränenblind im Schlafanzug auf meinem Bett und schrie an die Decke: »Warum immer die Reichen, warum nie Köln? Ich hasse dich, ich werde den Teufel anbeten!« 1994 wählte ich endlich evangelische Religion ab und quälte mich mein letztes Schuljahr lang durch den Werte und Normen-Unterricht. Der war so schlecht, dass ich mich dabei ertappte, die Bibel gegen eine Lehrerin zu verteidigen. Aber das kam aus dem Kopf, nicht aus dem Herzen.

Und nun stehe ich am Bettchen meiner Tochter und denke: »Wie kann etwas so klein sein, und doch so komplex und perfekt?« Wenn ich dieses Wunder sehe, könnte ich mich dankbar in den Staub werfen und um Verzeihung bitten, für jeden Zweifel an der Schöpfung und ihrem Macher.

Ich habe in der 21. Stunde der Wehen versprochen, bis Weihnachten keine Schokolade mehr zu essen, wenn nur Süße und Jael gesund aus der Sache rauskommen.

Sowas machen viele Leute ab und zu. Aber ich halte mich dran!

Ich glaube nicht, dass Gott inzwischen Fan vom 1.FC Köln ist. Aber ich werfe es ihm nicht mehr vor, weil ich's mir nicht verscherzen will. Er hat mich jetzt in der Hand.

Zwei Monate vor der Geburt unserer Tochter habe ich »Hoffmans Hunger« von Leon de Winter gelesen. Hoffman ist ein Wrack. Er hat aufgehört zu schlafen. Er frisst und säuft die Nächte durch bis er kotzt. Die Beschreibung widerte mich am Anfang an. Doch langsam kommt heraus, dass diese Nächte anfingen, nachdem Hoffmans erste Tochter an Leukämie und die zweite an einer Überdosis starb. Und dann schreibt de Winter den Absatz: »Als er in den Garten ging, war es schon wieder etwas heller, die Luft von einem schönen, tiefen, durchsichtigen Blau. Es war noch immer warm, aber frischer Tau lag auf dem Gras, und die Vögel riefen sich Neckereien zu, und er umarmte den Stamm eines Baumes und verlangte nach seinen Kindern.«

Ich implodiere in mein Innerstes, wenn ich das lese, jedesmal. Bis Weihnachten wandert kein Stück Schokolade in meinen Mund, soviel ist klar. Und sollte Jael trotzdem eine schlimme Krankheit bekommen und sterben, bevor sie eine alte, tattrige Frau ist, dann werde ich Gott verfluchen bis in alle Zeit. Ich hole ihn von seiner Wolke und poliere ihm die Fresse und wandere durch schottische Schlösser bis zum jüngsten Gericht.

Weil wir wissen, dass all diese grausamen Gedanken überflüssig sind, solange unsere Kleine hektisch vor sich hin trinkt, Windeln füllt, ohne Scham herumpupst und lauthals Bäuerchen macht, sind wir verzückt über jeden Rülpser. Und es gibt deshalb wahrscheinlich auf der ganzen Welt kein schöneres Gefühl, als jenes Kribbeln, das Eltern beschleicht, wenn sie merken, wie bescheuert sie gerade grinsen.

»Babykolumnen« von Tobias Kaufmann:

  1. Bob der Bär
  2. Guten Morgen Deutschland
  3. Nagenakknakk dejööööh rkjnok
  4. Häusliche Gewalt
  5. Chrissodaum
  6. Toooor!
  7. Selba!
  8. Auf Tournee
  9. Mein fremdes Kind
  10. Enthüllungen über Folterpapa
  11. Köff, Köff!
  12. Papa allein zu Haus
  13. Mussa nicha weinen!
  14. Gott und die Beinchen
  15. Passende Paprika
  16. Hesus von Köln
  17. Staatsbesuch
  18. Alles für die Forschung
  19. Ein Pferd für die Königin

Ab hier nennen wir es »Kolumnen mit der Kleinen Vorsitzenden« von Tobias Kaufmann:

  1. Mama sieht nicht schön aus
  2. Mit der Einschulung beginnt der Ernst des Lebens. Fragt sich nur, für wen.
  3. Scheckbuchdiplomatie

Solche Kolumnen sind auch in Tobias Kaufmanns Buch »Die kleine Chefin. Ein Trostbuch für versklavte Eltern«, wunderbar illustriert von Meike Haberstock, erschienen – im Eichborn-Verlag, einfach beim Buchhändler Ihres Vertrauens oder im Internet bestellen, zum Beispiel bei amazon bestellen. Das Geschenk für werdende und junge Eltern!