Was gehört zu einem gepflegten Fußballspiel? Tobias Kaufmann stellt rechtzeitig zur WM jeden Tag je ein wichtiges Element auf kolumnen.de vor: Elf Gebote für Fußballfans und solche, die es werden wollen.

07.06.06

Tobias Kaufmann

Die Elf Gebote
Gebot 9: Taktik

»Geht hin, vergewissert euch noch mehr und erkundet und passt genau auf, an welchem Ort sein Fuß weilt und wer ihn dort gesehen hat! Denn man hat mir gesagt, dass er sehr listig ist.« Poetischer als im 1. Buch Samuel (23,22) ist wohl nie wieder etwas geschrieben worden, das wie die taktische Anweisung eines Fußballtrainers klingt. Auf fußballerisch hieße obiger Satz vermutlich: »Passt auf den Neuner auf, Männer. Der steht immer am Rande des Abseits, aber wenn er entwischt, dann klingelt's.« Meist folgt noch ein spezieller Satz für den Verteidiger, der den Listigen betreuen darf. »Jupp, du lässt den nicht aus dem Auge. Und wenn der aufs Klo geht, dann gehst du mit!«

Zugegeben, viele Fußballer sind nicht gerade Schlauköpfe. Manche sind regelrechte »Vollfriseure«, wie Peter Neururer, Trainer von Hannover 96, es auszudrücken pflegt. Trotzdem ist Fußball kein Spiel für Blöde. Zumindest nicht im engeren Sinne. »Man kann vom Intelligenzquotienten her recht eingeschränkt sein, wenn man eine spezifische Fußballintelligenz besitzt«, sagt Neururer. Wozu man Intelligenz zum Kicken braucht – und sei es auch nur eine fußballspezifische?

Eines der wichtigen Elemente, das aus diesem eigentlich einfachen Spiel den populärsten Sport des Erdballs gemacht hat, ist die Taktik. Eine Mannschaft aus durchschnittlichen Spielern kann ein individuell besser bestücktes Team schlagen, wenn es taktisch anspruchsvoller spielt. Den Grund finden wir unter anderem im 1. Buch Moses. So ziemlich das erste, was Gott machte, war Licht. Er trennte also hell und dunkel und guckte sich genau an, was er erschuf, und ordnete alles systematisch an. Ins Wasser setzte er Tiere, die im Wasser atmen können. Für Kreaturen, die Gras essen, schuf er Gras – und umgekehrt. Gott hätte auch alles auf einmal im Dunkeln auf den Planeten schmeißen können, aber das wäre viel anstrengender gewesen und hätte die Schöpfung chaotischer gemacht, als sie schon war. Es gibt für alles den richtigen Moment und den richtigen Ort. Tage der Arbeit und den Ruhetag. Genauso ist es beim Fußball. Warum blind nach vorne rennen, wenn man erstens Augen hat und zweitens bereits in Führung liegt?

Eine der wichtigsten Neuerungen in den vergangenen 20 Jahren verdeutlicht, welche Vorteile Taktik hat. Früher spielte man mit zwei Abwehrspielern, die zwei gegnerischen Stürmern, wie eingangs zitiert, neunzig Minuten hinterher rannten. Wenn die Stürmer schlau waren, wechselten sie ständig die Positionen, was bedeutete, dass die Abwehrspieler sehr viel laufen mussten. Dabei passierte gerne folgendes: Stürmer A steht rechts, Stürmer B links. Abwehrspieler C steht bei A, Abwehrspieler D bewacht B. Plötzlich stürmt Mittelfeldspieler X mit Ball Richtung Tor, die Stürmer A und B sprinten los, um sich anzubieten, A nach links, B über Kreuz nach rechts, C und D suchen A und B, rennen los, gucken auf A, B, X, den Ball und – rennen sich gegenseitig über den Haufen, während A und B schon darüber nachdenken, welchen Torjubeltanz sie aufführen sollen.

Also wurde die Raumdeckung erfunden. Seitdem bewachen die Abwehrspieler ihre Seite und spielen gegen den Stürmer, der gerade in der Nähe ist. Vorteil: Man muss weniger laufen und ist besser organisiert. Nachteil: Man muss die Augen aufmachen und das gesamte Spiel überblicken, statt stur demselben Gegner hinterher zu rennen. Raumdeckung auf allen Positionen auf dem ganzen Platz ist toll. Wenn man's kann. Wenn nicht, sollte man es lassen. Ich habe selten groteskere Szenen gesehen, als jene in dem hilflosen Chaos bei der SG Steinlah/Haverlah, nachdem unser Trainer in der Kreisliga die Raumdeckung einführen wollte. Nicht, dass wir zu dumm gewesen wären, aber wir hatten Fußball anders gelernt und mit einmal Training pro Woche war da nichts zu retten. Deshalb gilt die Regel: Wende nur jene Taktik an, die deine Jungs kapieren.

Dass intelligente Menschen schlauer kicken, widerlegen Studentenmannschaften jedes Wochenende. Jeder will glänzen, Tore schießen – und hinten rappelt's im Minutentakt. So was nennt man Gedaddel, aber nicht Fußball. Zu richtigem Fußball gehören Disziplin, Organisation und Weitsicht. Dass man das auch ohne Abitur draufhaben kann, bewies jener anonyme Spieler, von dem Neururer sagte: »Seine Fußballintelligenz war sensationell. Aber vom normalen Intellekt: katastrophal. Der hat gehupt, wenn er gegen einen Baum gefahren ist.«

Was gehört zu einem gepflegten Fußballspiel? Tobias Kaufmann stellt rechtzeitig zur WM jeden Tag je ein wichtiges Element auf kolumnen.de vor: Elf Gebote für Fußballfans und solche, die es werden wollen:

Gebot 1: Rasen | Gebot 2: Trikots und Schuhe | Gebot 3: Aberglaube | Gebot 4: Der Ball | Gebot 5: Fans | Gebot 6: Trainer | Gebot 7: Teamgeist | Gebot 8: Tore | Gebot 9: Taktik | Gebot 10: Schiedsrichter