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»Die vierte Babykolumne:
Häusliche Gewalt« vorgetragen von Tom Wendt
(Bitte beachten Sie unseren Rechtevorbehalt).

11.05.05

Tobias Kaufmann

Die vierte Babykolumne:
Häusliche Gewalt

Die kleine Vorsitzende kratzt. Wenn ihr etwas nicht passt, grapscht sie in das Gesicht des Menschen, der sie gerade am meisten nervt – und wird gewalttätig. Das irritiert mich sehr, denn als Kind war, wenn überhaupt, immer ich derjenige, der Prügel bezog. Aber Jael hat offenbar andere Pläne. Vielleicht hat sie mitbekommen, dass Kinder und Jugendliche sich in Berlin nicht mehr gegenseitig als »Spast« oder »Luftpumpe« titulieren, wenn sie Verachtung ausdrücken wollen. Ich hab’s erst nicht glauben wollen, aber sie sagen tatsächlich: »Opfer«. Meine Tochter hat sich in kürzester Zeit an die Spitze unserer familieninternen Hierarchie geputscht. Und sie bevorzugt als deutsches Kind ganz zeitgeistig die Täterrolle.

Neulich haben Süße und die kleine Vorsitzende ihren Antrittsbesuch bei unseren neuen Nachbarn gemacht. Sie haben eine Tochter, Greta, wie Jael etwa zwanzig Monate alt. Und siehe da: während die beiden Mütter sich noch mit Small-Talk anwärmten, kamen die Mädchen sich bereits ganz nah. Greta, die einen Kopf größer ist als Jael, hatte irgendetwas gemacht, was unserer Tochter missfiel – eine Bewegung, ein Geräusch mit dem Schnuller, wer weiß das schon? Zack, Backpfeife. Geschrei. Das fand Jael noch blöder. Patsch, noch eine.

Süße stammelte verlegen Ausreden, die man von Hundebesitzern kennt: »Sonst ist sie nicht so...« Zack, die nächste. Langsam wurde es peinlich. Selbst auf dem Schoß ihrer Mutter war Greta nicht sicher, die kleine Vorsitzende versuchte, sie zu sich herunter zu ziehen und nachzulegen. Der Besuch endete vorzeitig. Wieder zu Hause angekommen, fiel Jael totmüde und friedlich ins Bett.

Wir beruhigten uns mit lauen Vermutungen. Vielleicht ist sie einfach zu müde gewesen. Oder es gibt irgendetwas an Greta, das Jael auf den Tod nicht ausstehen kann. Persönliche Abneigungen kennt ja jeder, auch ich. Der Unterschied zwischen einem Kleinkind und mir ist nur, dass ich es mir nicht leisten kann, Kollegen in der Konferenz einfach ins Gesicht zu schlagen. Das ist manchmal schade.

Doch ein paar Tage später trat Jael den Beweis an, dass ihre Übergriffe nicht persönlich gemeint sind. In der Kindergruppe zerkratzte sie den kleinen Lennart. Auch ihr bester Freund Robert hat noch Spuren vom letzten Treffen. Selbst ich werde nicht verschont und muss mir in der Redaktion neuerdings dumme Sprüche anhören. »Mit 'nem Tiger gekämpft?« »Nein, Jael widersprochen.« Niemand, der es nicht selbst erlebt hat, glaubt uns das. »Du spinnst, die ist doch immer sooo lieb!« Doch es lässt sich nicht leugnen: Wir sind Opfer häuslicher Gewalt.

Mit Greta versteht sich die kleine Vorsitzende übrigens inzwischen bombig. Süße und ich wälzen jetzt Fachliteratur und üben mit Jael verbale Konfliktlösung. Aber bevor sie das gelernt hat, sollte ich vielleicht mit meiner wehrhaften Tochter noch eine kleine Besuchstour zu ehemaligen Mitschülern unternehmen ...

»Babykolumnen« von Tobias Kaufmann:

  1. Bob der Bär
  2. Guten Morgen Deutschland
  3. Nagenakknakk dejööööh rkjnok
  4. Häusliche Gewalt
  5. Chrissodaum
  6. Toooor!
  7. Selba!
  8. Auf Tournee
  9. Mein fremdes Kind
  10. Enthüllungen über Folterpapa
  11. Köff, Köff!
  12. Papa allein zu Haus
  13. Mussa nicha weinen!
  14. Gott und die Beinchen
  15. Passende Paprika
  16. Hesus von Köln
  17. Staatsbesuch
  18. Alles für die Forschung
  19. Ein Pferd für die Königin

Ab hier nennen wir es »Kolumnen mit der Kleinen Vorsitzenden« von Tobias Kaufmann:

  1. Mama sieht nicht schön aus
  2. Mit der Einschulung beginnt der Ernst des Lebens. Fragt sich nur, für wen.
  3. Scheckbuchdiplomatie

Solche Kolumnen sind auch in Tobias Kaufmanns Buch »Die kleine Chefin. Ein Trostbuch für versklavte Eltern«, wunderbar illustriert von Meike Haberstock, erschienen – im Eichborn-Verlag, einfach beim Buchhändler Ihres Vertrauens oder im Internet bestellen, zum Beispiel bei amazon bestellen. Das Geschenk für werdende und junge Eltern!