11.09.06

Tobias Kaufmann

9/11, Gott und der Papst – ein Bekenntnis

Eugen Drewermann, der den Papst nicht so sehr mag, hat vor fünf Jahren gesagt, dass die Anschläge vom 11. September 2001 ein Hilfeschrei waren, ein Kommunikationsangebot der Schwachen, die in einer »Ersatzsprache der Gewalt« mit uns reden wollen. Wenige Intellektuelle haben ihm widersprochen, eigentlich ist Drewermanns These fünf Jahre »danach« so oder so ähnlich Allgemeingut geworden. Fünf Jahre »danach« ist auch der Papst in Deutschland. Und bei Sabine Christiansen wird – als eine Art Ratatouille der Ereignisse – diskutiert: Welche Religion hat Gott?«

Je länger ich dem zuhöre, was fünf Jahre »danach« so geredet wird, desto mehr hört es sich so an, als müsste ich mich entschuldigen. Als hätte ich mich furchtbar geirrt. Der Papst zumindest hat es mir nahe gelegt. Natürlich nicht unter vier Augen, sondern mehr allgemein, in seiner Münchner Predigt und in einem Text, der im Magazin »Cicero« abgedruckt wurde. Den Ausführungen des heiligen Vaters entnehme ich: Die Welt ist nicht so, wie ich sie in Kolumnen, Kommentaren und Stammtischäußerungen der letzten Jahre beschrieben habe. Nicht der Islam hat ein Problem, weil er – vollkommen unerklärlicherweise – Fanatiker und Mörder wie Bin Laden und seine Fans gebiert. Nicht die islamische Welt muss sich hinterfragen, warum sie Frauen und Ungläubigen elementare Menschenrechte vorenthält, ohne dass die offiziellen Vertreter des Islam, der Religion des Friedens, dagegen hör- und sichtbar einschreiten würden. Nicht jener Teil der Welt hat ein Problem, der einen unglaublichen Vorsprung in Wissenschaft, Kunst und Kultur innerhalb der letzten fünf Jahrhunderte eingebüßt hat und heute hoffnungslos dem Takt der Welt hinterher geht. Der null wissenschaftliche Nobelpreisträger ausbildet, weil er seine Jugend lieber darin unterrichtet, öffentlich Fahnen zu verbrennen und als Märtyrer zu sterben. Nein, so ist es nicht. Wir haben das Problem. Wir, der dekadente Westen. Wir sind hohl, wir sind hilflos, wir stehen am Abgrund. Denn wir haben bei all den vielen Frequenzen, die unsere Luft durchschwirren, leider »eine Schwerhörigkeit für Gott« entwickelt. Sagt der Papst. Die Menschen in Afrika und Asien haben sich – trotz Aids, trotz Armut, trotz Diktatur – ihre Hellhörigkeit bewahrt. »Die westliche Kultur zeigt Zerfallserscheinungen. Sie verliert mit ihrer Religiosität die Achtung vor sich selbst. Der aktuelle Kampf der Kulturen hält dem Westen einen unangenehmen Spiegel vor. Denn er entlarvt seinen fehlenden Spiritualismus«, analysiert Papst Benedikt XVI. fünf Jahre »danach«. Ich lebe in einer Kultur, die Zerfallserscheinungen zeigt.

Komisch. Wenn ich morgens auf die Straße trete, sehe ich Menschen, die zur Arbeit gehen. Kinder, die zur Schule gehen oder in den Kindergarten. Alte Leute, die es nicht mehr im Bett hält. Sogar eine sehr alte, gekrümmte Frau sehe ich manchmal, die wohl zu anderen Zeiten oder in anderen Kulturen schon längst zerfallen wäre. Sie geht sehr, sehr langsam. Und auf ihrem Rücken trägt sie einen Rucksack, auf dem steht: »Catch me if you can.« Ich wette, sogar der Papst würde lachen, wenn er die Frau mit diesem Rucksack sehen würde.

Ich trete gerne auf die Straße. Ich freue mich darüber, dass ich gleich von einem (fast) perfekten öffentlichen Nahverkehrssystem zu meinem geheizten und trockenen Büro transportiert werde. Auf dem Weg kaufe ich mir oft einen Kaffee oder ein Croissant, manchmal sogar beides. Mir muss man nicht sagen, dass nicht alles Gold ist was glänzt, ich war im Gegensatz zum Papst mal Sozialist – und den jungen Mann, der den »Straßenfeger« verkauft, treffe ich oft genug in der Bahn. Und doch ertappe ich mich manchmal dabei, dankbar und zufrieden zu sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich auf meinem Weg überfallen oder von Geheimpolizisten verhaftet werde, auf eine Mine trete oder von Kindersoldaten erschossen werde, ist gering. Ich verdanke dieses Glück nicht dem Umstand, dass ich ein besonders toller Mensch wäre. Ich verdanke es den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leistungen meines Kulturkreises – »dem Westen«. »Der Westen« hat früher eine ganze Menge schlimme Dinge gemacht hat und tut das bis heute. Über den Daumen aber kann man sagen, dass mein Kulturkreis zur Vernunft gekommen ist. Es hat ihm gut getan, Gott sei Dank.

Heute konnte ich zum Beispiel den Papst in Farbe unzensiert in meinem eigenen Fernseher ansehen. Bendikt hatte ein grünes Kleid an. Er hat gesagt, dass wir Aids »von den tiefen Ursachen her bekämpfen« müssen. Den Virus hat er damit offenbar nicht gemeint, aber er hat die »tiefen Ursachen« nicht weiter ausgeführt. Es klang ein bisschen wie eine Verschwörungstheorie.

Auch bei diesem Thema muss ich mich, fünf Jahre »danach«, unbedingt entschuldigen, wie es scheint. Ich habe geglaubt, dass am 11. September 2001 muslimische Terroristen zwei Flugzeuge ins World Trade Center gesteuert und zwei weitere auf das Pentagon und eine Wiese in Pennsylvania gestürzt haben. Ich hielt dies für das letzte Zucken der Barbarei, nicht für ein Zeichen von aufstrebender Kultur. Und ich habe mich angegriffen gefühlt. Ich fühle es noch heute. Ich hatte das Gefühl, dass wir bedroht werden, ich und der Kulturkreis, der Frauen in kurzen Röcken, Schwule, Atheisten, Salman Rushdie und im Großen und Ganzen sogar Juden akzeptiert. Und, ja, auch das: Dass wir uns wehren müssen, wenn uns dieses Leben, das wir führen, etwas wert ist.

Doch ich bin offenbar auf dem Holzweg. Erstens technisch, weil die in diesen Tagen noch einmal auf der Homepage des US-State-Departements aktualisierten Fakten zu den Anschlägen vom 11. September viel zu überzeugend sind, als dass sie stimmen könnten. Ich muss statt dessen endlich eingestehen, dass die Internet-Blogger und ihre Apologeten im Recht sind, die mit hanebüchenen Theorien das Bewusstsein eines Drittels der Deutschen unter 30 prägen. Denn nur sie halten das Banner des Glaubens in einer Welt hoch, die vom zynischen Verstand geprägt ist. Sind, zweitens, nicht etwa wir und die Abermillionen Moslems, die von unserer liederlichen Lebensweise längst korrumpiert wurden bedroht, sondern jene, die noch nicht taub sind für Gott? »Die Völker Afrikas und Asiens bewundern zwar unsere technischen Leistungen und unsere Wissenschaft, aber sie erschrecken zugleich vor einer Art von Vernünftigkeit, die Gott total aus dem Blickfeld des Menschen ausgrenzt und dies für die höchste Art von Vernunft ansieht, die man auch ihren Kulturen aufdrängen will. Nicht im christlichen Glauben sehen sie die eigentliche Bedrohung ihrer Identität, sondern in der Verachtung Gottes und in dem Zynismus, der die Verspottung des Heiligen als Freiheitsrecht ansieht und Nutzen für zukünftige Erfolge der Forschung zum letzten ethischen Maßstab erhebt«, sagt der Papst.

Ich verstehe das so, dass die »Völker Afrikas und Asiens« sich von uns bedroht fühlen. Sie benutzen zwar gerne unsere Technik, etwa automatische Waffen, Flugzeuge oder Mobiltelefone. Aber im Gegensatz zu uns, die diese Dinge nur missbrauchen, um damit Krieg zu führen, billige Reisen zu unternehmen oder teure Sex-Nummern anzurufen, wissen diese Völker, dass unsere Gegner im »Kampf der Kulturen« damit viel gottgefälligere Dinge anstellen: Ungläubige töten, Unschuldige töten, Anschläge planen. Und weil nicht etwa die zynische Globalisierung, sondern die Ideologie, die solche Taten verherrlicht, den Menschen in der islamischen Welt Wohlstand und Glück verheißt, blüht der Islam derzeit wie nie zuvor. »Das Wiederaufblühen des Islam ist nicht nur durch den materiellen Reichtum islamischer Länder bedingt, seine Ausbreitung erklärt sich auch daher, dass er seinen Anhängern eine lebensnahe, spirituelle Basis bieten kann und genau diese scheint dem Alten Europa verloren gegangen zu sein. Deshalb wird Letzteres, trotz seines politischen und wirtschaftlichen Gewichts, als dem Niedergang geweiht angesehen«, schreibt der deutsche Papst.

Nicht das Haus des Islam ist also bedroht, weil sein Gebälk unter morbider Doppelmoral und himmelschreiender Menschenfeindlichkeit bedenklich schwankt. Nicht der Islam braucht mehr Dynamik, mehr Humor und mehr Hinwendung zu dem Gott, der kein Mörder ist, sondern ein Schöpfer. Nein, wir sind es. Wir, die wir mit Kirchensteuern und Spenden Trost und Brot für die Welt geben wollen und dabei übersehen, dass so mancher Hungrige spirituell viel reicher ist als wir.

»Auch die großen religiösen Traditionen Asiens, insbesondere deren mystische Komponente, die im Buddhismus zum Ausdruck kommt, erheben sich zur spirituellen Macht gegen ein Europa, das von seinen religiösen und moralischen Grundsätzen abfällt«, warnt Benedikt XVI. – offenbar das leuchtende Beispiel der buddhistischen Geistlichkeit vor Augen, die sich als spirituelle Macht gegen Unterdrückung und kommunistische Ersatzreligionen in ganz Asien erhebt. Schade, dass der »Spirit« nicht ausreicht, um jährlich eine Viertelmillion Chinesen vom Selbstmord abzuhalten.

Fünf Jahre »danach«. Nach diesen Bildern. Diesen Geräuschen. Haben sie mich blind und taub gemacht? Der Gott, an den ich glaube, weiß, dass Menschen irren können. Dass sie sich manchmal nicht sicher sind. Dass sie im Laufe der Jahre lernen, Dinge anders zu sehen als früher. Und dennoch: Je länger ich über den 11. September 2001, die Analyse des Papstes zum »Kampf der Kulturen« und über seine Predigt in München nachdenke, desto sicherer bin ich, dass ich mich doch nicht geirrt habe. Wir gewinnen den Kampf der Kulturen nicht dadurch, dass wir unsere Religiosität wieder entdecken, sondern wir gewinnen ihn, wenn wir menschlicher sind als die anderen, offener, lockerer, freier, besser. Vielleicht ist es der Job des Papstes, den Schwerpunkt anders zu setzen. Aber sein rhetorischer Griff zu einem romantisierten Bild eines aufblühenden Islam ist nicht sein Job. Er ist ein Fehler. Der Islam blüht nicht. Er ist moralisch, theologisch und gesellschaftlich vollkommen am Ende. Darüber täuscht auch die Zahl der Gläubigen nicht hinweg.

Die Werte der Aufklärung, die der Islam so dringend braucht und ohne die »der Westen« aufhören wird, zu existieren, sind nicht beliebig. Aber sie ertragen Atheisten genauso wie Gläubige, Fromme wie Skeptiker. Das ist ihre Stärke. Und sie widersprechen dem Gott nicht, der dem Menschen die Freiheit geschenkt hat – mit allen Konsequenzen. Dieser Gott, an den ich glaube, ist für das Leben. Wenn er überhaupt an einem Ort auf dieser Erde sein kann, dann saß er vor fünf Jahren im World Trade Center und bei den Passagieren, nicht in den Cockpits. So, wie er vor mehr als sechzig Jahren in Auschwitz in den Baracken und in den Gaskammern war, nicht in den Wachtürmen. Er sitzt gern in einem Café, vielleicht sieht er sogar Frauen in kurzen Röcken nach. Menschen, die laute Musik, fette Burger und blanke Titten begehren, mag er im Zweifel lieber als Asketen, die Frauen schlagen, Kinder steinigen oder in einer Höhle Videobotschaften drehen und Leuten den Kopf abschneiden. Kurz gesagt: Ich hoffe, der Gott, an den ich glaube, ist auf meiner Seite. Und ich bin sicher, er nimmt es nicht sonderlich übel, wenn ein alter, eigentlich kluger Mann in einem grünen Kleid fünf Jahre »danach« in Bayern einen Schmarren daherpredigt.