15.03.06

Tobias Kaufmann

Böser, schwarzer Edelpulli

Ein Blick zurück auf Gudrun Pausewang, die Grünen und den Super-GAU.

Allein ihr Name war furchteinflößend. Gu-drun Pau-se-wang. Wenn ich diese fünf Silben als Jugendlicher aussprach, lösten sie eine Kettenreaktion im Gehirn aus: Haarausfall, Fall Out, Tod. Denn Gudrun Pausewang hat »Die Wolke« geschrieben. Das Buch erzählt kurze Zeit nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl von einem Super-GAU im deutschen Atomkraftwerk Grafenrheinfeld. Es gewann 1988 den Deutschen Jugendbuchpreis. Am 16. März kommt »Die Wolke« ins Kino. Ein ideologisch überladener Katastrophenfilm, offiziell empfohlen von Greenpeace – mehr muss man eigentlich nicht wissen. Vielleicht aber doch, gerade deshalb.

Seit Erscheinen des Buchs mussten es Generationen von Schülern im Unterricht lesen, auch ich. Wir waren damals, 1989/90, jünger als die 14-jährige Hauptperson Janna-Berta. Die Albträume, die sie, verstrahlt und verzweifelt, aus dem Schlaf reißen, haben uns nicht ruhen lassen. »Hinter ihr rief es wieder ›kuckuck!‹ Aber als sie sich umdrehte, ragte vor ihr die Ruine des Atomreaktors empor, zerrissen, zersplittert, geborsten. Reinhard und Almut waren plötzlich auch da, beide ohne Haare auf dem Kopf. Sie hatten Stöcke in der Hand und scharrten damit in der Asche. ›Nicht!‹, rief Janna-Berta erschrocken. ›Das Zeug strahlt doch noch. Lauft fort!‹«

Pausewang hat mehrere Katastrophenromane geschrieben, darunter »Die letzten Kinder von Schewenborn«, das nach einem Atombombenabwurf auf Deutschland spielt, oder »Der Schlund«, in dem ein neofaschistischer Diktator die Macht übernimmt. Es ist das vermutlich schlechteste gut gemeinte Buch zum Thema Rechtsextremismus aller Zeiten: Miserabel informiert, voller Klischees und lächerlicher Pointen. An einer Stelle wird Thomas Gottschalk in ein Lager gesperrt. »Der Schlund« hat mir Mitte der 90er viel zu denken gegeben über Pausewang und ihre Warnungen. Denn mit Rechtsextremismus kannte ich mich, anders als mit Kernenergie, sehr gut aus. Der Schluss lag nahe, dass eine Autorin, die aus Unkenntnis bei einem wichtigen Thema vollkommen versagt, auch bei anderen Themen nicht besser bescheid weiß.

»Lehrerin der Angst« hat die »Zeit« Pausewang einmal genannt. Das trifft es ziemlich gut. Der Regen in ihren Büchern ist sauer. Moralinsauer. Gut und Böse sind wie mit dem Rasiermesser getrennt. Die Guten sind Vegetarier. Sie fahren VW-Bus, nehmen verstrahlte Kinder mit und sagen Sätze wie: »Tschernobyl war noch nicht genug. Es muss erst hier bei uns passieren, damit es dem Bundesbürger den Hintern aus dem Sessel reißt.« Böse sind »die Politiker« und allgemein »Bonzen«. Ein »schwarzer Edelpulli« ist für eine 14-Jährige eine Zumutung. Gute Mädchen tragen bunt.

Das Weltbild, das die 1928 in Böhmen geborene Pausewang in der »Wolke« vermittelt, wäre eine lächerliche Karikatur – wenn sie es nicht so bitter ernst meinte. Der Mensch überschätzt sich, er entfremdet sich von seiner wahren Natur durch Habgier und Gleichgültigkeit, und sobald eine Katastrophe passiert, »geht die ganze Zivilisationstünche ab«. Dann denkt jeder nur an sich, dann werden Kinder überfahren, Demonstranten erschossen, faschistoide Strukturen aufgebaut und Nobelautos pflügen rücksichtslos durch anderer Leute Vorgärten. Nur eine mutige Jugend in bunten Pullis rettet die Gesellschaft, die durch eine schlimme Katastrophe gehen muss, um zu werden, wie sie eigentlich sein sollte: In »Die Wolke« geht die Verteilung der Flüchtlinge nach dem GAU nicht ohne »harte Maßnahmen« – aller Wohnraum wird zwangsverwaltet. Die verseuchten Kinder in der Klinik lachen, als im Fernsehen eine »wütende Villenbesitzerin« zu sehen ist, die gezwungen wird, eine Familie aus dem Katastrophengebiet in ihr Haus aufzunehmen. Dass sich die meisten Menschen im Katastrophenfall keineswegs asozial verhalten – was zuletzt der Tsunami und selbst New Orleans gezeigt haben – passt nicht in dieses Weltbild, das von rigider Moral überfrachtet ist. »Jetzt werden wir nicht mehr sagen können, wir hätten von nichts gewusst« ist dem Buch als Motto vorangestellt, so als ginge es nicht um das Für und Wider einer komplexen Technologie, sondern um Auschwitz.

Vor zehn Jahren bin ich als Zvildienstleistender in der Tschnernobyl-Region gewesen. Ich habe Kinder mit Schilddrüsenkrebs gesehen und Männer getroffen, die 1986 nachts in den brennenden Reaktor geschickt wurden, ohne zu wissen, was sie erwartet. Tschernobyl könnte nach UNO-Schätzungen bis zu 4.000 Menschen das Leben kosten. Über sie kommt jetzt kein Spielfilm ins Kino. Stattdessen kommt mit Unterstützung der staatlichen Filmförderung »Die Wolke« mit 18.000 (Buch) bzw. 38.000 (Film) fiktiven Toten. Und das, nachdem der Atomausstieg längst beschlossen und gesellschaftlicher Konsens ist – bestimmt zu Recht, denn Kernkraft ist auch und gerade wegen der Sicherheitsstandards in Deutschland teuer (und subventioniert). Ein drohender GAU ist allerdings deshalb kein besonders gutes Argument. Aber es zieht, weil es Angst macht. »Gefährlich ist, was man nicht sieht«, das war unser Mantra, als wir noch an den nahen Atomtod glaubten. Es ist ein Gefühl, das bleiben wird, fürchte ich. Allerdings: dass die Macher des Films richtig schlimm Angst haben, ist zumindest zweifelhaft, sonst wären sie nicht auf die Idee gekommen, auf ihrer Homepage den Fortschritt beim Laden von Dateien nicht in Kilobyte, sondern in »Becquerel« anzuzeigen. Sehr witzig.

Man stelle sich vor, ein Autor hätte 1987 einen fiktiven Roman geschrieben, in dem DDR-nahe Ökovegetarier uns zwingen, alle Atomkraftwerke abzuschalten und ohne Strom und Warmwasser in einer vormodernen, klassenlosen Hölle zu leben. Die Guten wären leidgeprüfte Kinder idealistischer Atomlobbyisten, die Bösen wären engagierte Lehrer und »die Umweltschützer«. Wir wären empört, wenn unsere Kinder so einen Unfug in der Schule lesen müssten. Ein Buch, das die Story umgekehrt erzählt, steht noch 20 Jahre später auf Lehrplänen – und die Kino-Version wird von der »Filmbewertungsstelle Wiesbaden« als »besonders wertvoll« eingestuft.

Ich habe den Film gestern, zwei Tage vor seinem offiziellen Start, im »Kino International« in Ost-Berlin gesehen. Früher guckte hier Honecker-Prominenz Premieren, an diesem Abend hatten die Grünen geladen. Am Eingang hingen Plakate, auf denen CDU/CSU- und FDP-Politiker mit gelben Armbinden abgebildet waren. Darunter stand: Atom-Bande stoppen! Offenbar ist ein Mensch, der in Kernenergiefragen anderer Meinung ist, für die Grünen automatisch ein Krimineller.

Der Film selbst ist nicht der Rede wert. Pausewangs altlinker Furor ist kaum noch zu spüren, dafür wurde die Story zu einer Liebesgeschichte zweier Teenies umgeschrieben und mit einer Extraportion Kitsch übergossen. Aber nach wie vor ist ein nicht näher erfassbares »Establishment« lügender Politiker an allem schuld, und wenn der Zuschauer allzusehr in die schönen Bilder abzurutschen droht, betet irgendein Schauspieler schnell ein paar technische Fakten zum genauen Ablauf der Unfälle in Tschernobyl und Harrisburg runter. »Bestimmt wird gleich das Kuscheltier auf der Straße von einem Auto überrollt«, denkt man als Zuschauer, und in der nächsten Szene wird das Kuscheltier auf der Straße von einem Auto überrollt. Platter Teddy, platter Film.

Die letzten Bilder sind irgendwie hoffnungsvoll und werbeähnlich, bevor alles auf schwarzem Grund mit folgendem Satz zu Ende geht: »Allein 2004 gab es in deutschen Atomkraftwerken 154 meldepflichtige Störfälle«. Natürlich wird dem Zuschauer nicht erklärt, dass 2004 nur 5 dieser »Störfälle« überhaupt als – sehr geringfügige – Störung gelten. Die anderen 147 Vorkommnisse (also 95 Prozent) werden auf der Internationalen Skala für kerntechnische Unfälle, die von 1 (Störung) bis 7 (Katastrophaler Unfall) reicht, der Stufe 0 zugeordnet. 147 Situationen, die ungefähr so gefährlich waren wie ein überfüllter Aschenbecher in einem Auto, das in der Garage steht.

Trotzdem ist Claudia Roth, die Grünen-Chefin, in der Diskussion nach dem Film etwas zittrig. Sie könne jetzt noch gar nicht so richtig über Energiepolitik sprechen, sagt sie zum Moderator, sie sei noch zu ergriffen und aufgewühlt – so als habe sie gerade »Hotel Ruanda« gesehen, oder eine Doku über real existierende Tschernobyl-Opfer, statt eines Agitprop-Spielfilms für Jugendliche. Claudia Roth muss sich ganz doll zusammennehmen, um überhaupt sprechen zu können. Und der Regisseur, Gregor Schnitzler, erzählt, wie toll er die Grünen findet, weil sie etwas verändert haben, »Dosenpfand und so.« Dann berichtet er, dass sogar »türkische Kids« bei einer Film-Vorführung »sensibilisiert« worden seien. Ein Junge hatte in der anschließenden Diskussion für Kernenergie argumentiert, woraufhin ein türkisches Mädchen rief: »Ey, willst du sterben?« Na bitte! Noch Fragen? Der Film richte sich an alle, die früher das Buch gelesen haben, sagt Schnitzler. Aber vermutlich haben diejenigen, die heute um die 30 sind und die ständigen Weltuntergänge der 80er unbeschadet überlebt haben, keine Lust mehr auf politisch motivierte Albträume. Wir sind ohnehin längst als vergnügungssüchtige Zyniker verschrien, da brauchen wir uns um die Apokalypse keine Sorgen mehr zu machen. Wir müssen uns nur rechtzeitig gute Plätze für das Spektakel sichern.

Und deshalb sind – neben nostalgischen Grünen – Kinder die zweite Zielgruppe des Films. Bundesweit gibt es 90 Vorführungen für Lehrer, die dann möglichst mit ihren Schulklassen wiederkommen sollen. Eine gruselige Vorstellung. Ausgerechnet Gudrun Pausewang hat in einem Interview zum Film etwas sehr beruhigendes gesagt: »Ich glaube, wir unterschätzen unsere jungen Leute. Sie lassen sich nicht ihre Vorstellung, ihre Denkweise und ihre Denkrichtung von Erwachsenen vorschreiben«. So sehr ich mich freue, wenn Gudrun Pausewang sich irrt – diesmal hat die alte Dame hoffentlich Recht.