20.05.03

Tobias Kaufmann

Urlaub auf deutsch

Ich habe die soziale Hängematte des deutschen Volkes gesehen. Sie hängt in Prora auf Rügen. In Urlaubszimmern mit zwei Betten, einem Waschbecken, zwei Stühlen, Tisch, Liegesofa. Alles auf zwei mal vier Meter fünfzig zusammen geschoben. Durchs Fenster blickt die rauschende Ostsee. Hier kann man endlich mal unter sich sein. Zusammen mit 20000 Volksgenossen. Weit und breit kein Engländer, der es auf unsere Liegestühle abgesehen hat. Raus zur Morgengymnastik erst um 7 Uhr 30 – es sind ja Ferien. Abends: Gemeinsam dem Schnarren des Führers im Volksempfänger lauschen. Es gibt Fortschritte an der Ostfront...

So hätte er sein können, der kollektive Freizeitpark.

Doch dann kam der Russe.

Prora auf Rügen ist nicht mehr, wie es einmal war. Genau genommen war es auch nie, wie es einmal sein sollte: eine acht Kilometer lange Gebäudereihe parallel zum Strand mit einer Festhalle für 20000 Gäste. Denn 1939 ließ der Führer die Bauarbeiten am halb fertigen deutschen Urlaubsparadies einstellen. Das war nur konsequent, denn statt am Strand zu urlauben starb der deutsche Familienvater damals an der Front. Oder, um es mit dem original Zeitzeugenvideo zu sagen, das ich in der KulturKunststattProra bewundern durfte: »Es kamen andere Zeiten mit anderen Prioritäten.«

Foto (Prospekt, Abbildung Prora-Modell)

»Prora – quo vadis?«

Foto von Tobias Kaufmann

Jetzt, wo die Fassaden bröckeln, ist Prora allein wegen dieses Museums in Block 3, Trakt 3/ TH2 eine Reise wert. Eintritt: 6 Euro 50. Dafür flimmert im Erdgeschoss in einer Art Mini-Kinosaal besagtes Doku-Video vor sich hin. Ein ehrenamtlich gesprochener Text voller Grammatikfehler erzählt darin, wie Fürst Malte seinen Küstenlandstrich »auf Wunsch des Führers« für das deutsche Erholungseldorado zur Verfügung stellte. Ein schönes Bild, das sich da im inneren Auge des Betrachters selbst malt. Der Führer, wie er Fürst Malte flehend anschnarrt: »Bitte, geben Sie mir Ihren Küstenlandstrich für mein Volksbad.« »Wenn Sie nicht möchten, führen wir Sie raus und erschießen Sie«, fügt ein junger Mann aus dem Gefolge des Führers wohlwollend hinzu. Oh, wie würde Bahnchef Mehdorn frohlocken, wenn auch seine Verhandlungen zum Flächenkauf zwecks Bau neuer Bahnstrecken so einfach wären.

Ich schweife ab? Das macht nichts, denn das passiert dem Museum in Prora auch. Pornobunt brüllen Plakate von allen Wänden auf die Besucher herab: »20 Fernsehteams drehten schon bei uns« – und in anderer Schrift darunter – »weil wir interessant sind«. Schließlich vereint dieses monströse Ensemble das »NS-Kraft durch Freude-Museum«, das »NVA-in-Prora-Museum 1 / 16. Kompanie in Prora«, das »NVA-in-Prora-Museum 2 / Standortdokumentation-Saal«, das »Rügen-Museum 1 mit acht rügentypischen Sonderausstellungen«, Schülerbildern (teilweise preisgekrönt), der »NVA-Kunst der Nationen«-Sammlung, drei Originalmodellen der KdF-Schiffe »Der Deutsche«, »Robert Ley«, »Wilhelm Gustloff« (jeweils in altdeutscher Schrift präsentiert), dem Original-KdF-Urlauber-Zimmer und dem Original-NVA-Urlauber-Zimmer aus dem »Erholungsheim Walter Ulbricht, Prora, Block 1, Stand 1988« sowie, im fünften Stock, das »Rügen-Musem 2« mit vier Modellanlagen zu Rügens Geschichte (»Privileg: Kulturgeschichtlich besonders wertvoll«) und dem Wiener Kaffeehaus, für das wir unten am Eingang zwei Weinprobengutscheine erhalten hatten. Bei all dem Krimskrams, den die Museumsmacher auf ihren fünf Etagen zusammengesammelt haben, bleibt das enscheidende jedoch zu keiner Zeit verborgen: Die ganze Leidenschaft des Personals gehört der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik. Nicht weniger als 23 Räume hat man originalgetreu rekonstruiert. Einen Schlafraum der Mannschaften, das Büro des Majors, den Clubraum. In zwei Räumen ist sogar ein Schießstand untergebracht. Überall stehen Kleiderständer mit Original-Uniformen herum, über die Klarsichtfolie gezogen ist – falls die Dinger noch mal gebraucht werden, sollen sie ja staubfrei sein. Ein Zimmer füllt das lebensgroße Abbild des Museumsgründers Hans Müller, der wenige Tage nach der Schlüsselübergabe 1999 an einem Herzschlag verstarb. Neben seinen weißen Slippern stehen Plastikblumen. Ein Schriftzug der Mitarbeiter, die – wie Müller – auf eine erfolgreiche NVA-Karriere zurückblicken können, versichert ewiges Gedenken an den Verstorbenen, der »Freund, Respektperson, Denker und Lenker« in einem war. Das Gästebuch im vierten Stock umfasst knapp dreißig Bände. Unter die Mitteilung eines Besuchers, dass er über die völlig kritik- und distanzlose Rekonstruktion erzürnt sei, weil er hier die schlimmsten 1½ Jahre seines Lebens verbracht habe, hat irgendwer ein einziges Wort gekritzelt. »Weichei«.

»Schade, dass sie dieses Monstrum nie abgerissen haben«, sagt Süße während unserer Flucht über den Parkplatz voller Reisebusse, auf dem ein anatolischer Imbiss einen Hauch Globalisierung in die muckelige »wir wollen aber wieder unseren kleinen deutschen Staat haben mit Mauer drumherum«-Stimmung grillt.

Doch diesmal hat Süße nicht recht. Angebracht ist die Melancholie, mit der der letzte Satz des »Zeitzeugen-Videos« im Erdgeschoss verhallt. »Prora – quo vadis?« unkt der Sprecher. Wir sehen eine Luftaufnahme des denkmalgeschützten KdF-Seebades, der zur Heimat eines NVA-Raketen-Ausbildungs-Zentrums und 25 Kompanien wurde und seit der Wende vor sich hingammelt. Prora, wohin gehst du?

Das ZDF hat eine mögliche Antwort gegeben. Unfreiwillig. Und zwar, als es in nicht zu überbietender chauvinistischer Instinktsicherheit die grausigen Bilder der Terroranschläge in Marokko mit der Frage verband: »Wo kann man überhaupt noch sicher Urlaub machen?«

Dass ausgerechnet jene, die Fremde am wenigsten leiden können, nur noch dank der Touristen aus dem Westen überleben können – diese Gottes Humor beweisende Groteske verbindet viele Gegenden auf der Welt. Also, Volksgenossen. Packt den Zementsack ein, tut 'nen Spaten noch mit rein und nix wie raus nach Prora. Hans Müller wird sich strahlend im Grabe drehen. Und wenn sich die soziale Hängematte des deutschen Volkes dann endlich im Winde wiegt, darf die KulturkunststattProra einen neuen lila-grünen Werbespruch an Proras Fassaden schrauben: Warum in den Nahen Osten fliegen, wenn der Osten so nah ist?